Wolfgang Kersting im Interview Gleich, gleicher... - ungleich

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Das hört sich nicht nach „Reagonomics“ an.

Libertarians, also Marktabsolutisten, die jede Form von Sozialstaat ablehnen, stehen sowohl mit der Realität als auch mit der Moral auf Kriegsfuß. Zum einen hat es etwas Sektiererisches, sich gegen die historische Entwicklung zu stellen und anarchistische Utopien zu pflegen, die grundsätzlich nicht realisierbar sind. Zum anderen ist es moralisch unerträglich, sozialstaatliche Besteuerungen als menschenrechtswidrige Aktionen zu bezeichnen und sie damit Mord, Folter und Vertreibung gleichzustellen. Ich bin der letzte, der Sozialstaatskritik für illegitim erklären würde. Aber libertäre Sozialstaatsnegation ist keine Sozialstaatskritik, sondern ihre ideologische Verzerrung. Das muss auseinandergehalten werden. Nur zu gern glauben die Besitzstandswahrer, sich der berechtigten Sozialstaatskritik dadurch erwehren zu können, dass sie Kritiker in die Ecke der libertären Sektierer stellen.

Wie also kann die Rechtsstaatsidee sozialstaatlich ergänzt werden – ohne in die egalitäre Falle der Verteilungsgerechtigkeit zu laufen?

Ich habe zwei Argumente. Das erste beruft sich auf Kant – und macht Gebrauch von einem etwas erweiterten Freiheitsbegriff. Wenn ich auf der einen Seite allen Mitgliedern einer liberalen Gesellschaft ein Menschenrecht auf Freiheit einräume – und auf der anderen Seite feststelle, dass die rechtsstaatliche Organisation der äußeren Handlungsfreiheit genau der institutionelle Rahmen ist, in dem dieses Menschenrecht auf Freiheit am besten verwirklicht werden kann, dann darf ich nicht die Augen davor verschließen, dass diese Freiheit ohne hinreichenden Mittelbesitz nur deklamatorischen Wert hat. Jemand, der über keinerlei Mittel verfügt, hat keine Optionen, kann sich seiner Freiheit nicht bedienen. Durchdachte Rechtsstaatlichkeit verlangt nach zumindest minimaler Sozialstaatlichkeit.

Und deshalb ist die Gesellschaft verpflichtet, für ausreichenden Mittelbesitz zu sorgen?

Natürlich. Wenn ohne hinreichenden materiellen Mittelbesitz dem Ideal der freien, selbstverantwortlichen Lebensführung nicht entsprochen werden kann, ist die Gesellschaft aus Gründen politischer Solidarität – und aus Gründen der Verpflichtung gegenüber ihrem anspruchsvollen, liberalen Freiheitsideal! – gehalten, durch entsprechende Transferzahlungen dafür zu sorgen, dass diejenigen, die diese Bedingung unglücklicherweise erfüllen, mit Ressourcen ausgestattet werden.

Was heißt „hinreichender Mittelbesitz“? Stoßen Sie jetzt nicht selbst das Tor zur Interpretation dessen auf, was „Gerechtigkeit“ meint?

Ganz und gar nicht. Natürlich, was „hinreichend“ ist, lässt sich nicht apriorisch bestimmen, sondern hängt von den kulturellen Standards hinreichender Lebensqualität ab, die sich in einer Gesellschaft herausgebildet haben. Aber ein an der Ermöglichung von Freiheit geknüpfter Gerechtigkeitsbegriff hat vor allem eine Abgrenzung vorzunehmen. Sich seiner zu bedienen heißt: sich vom Paradigma der egalitaristischen Verteilungsgerechtigkeit zu verabschieden, Ungleichheitsminderung als politischen Selbstzweck von der Tagesordnung zu streichen. Dieses dezidiert liberale, antiegalitaristische Sozialstaatskonzept würde es nicht gestatten, mit Verteilungsversprechen Politik zu machen und den Sozialstaat als Kriegskasse für Wiederwahlkampagnen zu verwenden.

Sie sprachen von einem zweiten Argument.

Richtig. Die zweite Möglichkeit, den modernen Sozialstaat zu begründen, ist der Rekurs auf transzendentale Güter, das meint: fundamentale Lebensvoraussetzungen, die zwar nicht alles sind, ohne die aber alles nichts ist. Dazu gehören Sicherheit, Freiheit, Gesundheit, hinreichende Versorgtheit, Bildungs- und Ausbildungschancen. Ein jeder hat einen Anspruch auf diese Güter – aber der Markt vermag für eine egalitäre Verteilung dieser Güter nicht zu sorgen. Da hat der Staat in die Bresche zu springen. Seine Aufgabe ist die Produktion und egalitäre Verteilung dieser Güter.

Verdeutlichen Sie es an einem Beispiel.

Nehmen Sie die Sicherheit. Niemand von uns würde eine Gesellschaft als gerecht ansehen, in der man sich Sicherheit kaufen muss – und in der damit das Ausmaß des Schutzes von der privaten Zahlungsfähigkeit abhängig ist. Wenn der Staat also seine fundamentale Leistung, für eine allgemeine, kostenfreie Sicherheit zu sorgen, nicht mehr erfüllen kann, werden wir nicht mehr von gerechten Lebensverhältnissen reden können. Das Gleiche gilt für die Bildung und die Gesundheit: Wenn der Staat keine Grundversorgung garantiert, können wir nicht einmal mehr von einem basalen Sozialstaat sprechen. Es ist Aufgabe des Staates, als Rechts- und Sozialstaat, für eine egalitäre Grundversorgung mit transzendentalen Gütern aufzukommen.

Können wir in diesem Sinne heute noch von einem Sozialstaat sprechen? Sicherheit, Bildung, Gesundheit... – der Sozialstaat entfernt sich doch immer weiter von seinem gerechtigkeitsliberalen Minimalprogramm – und dehnt stattdessen sein verteilungspolitisches Werk aus.

In der Tat. Es darf ausschließlich um die Grundversorgung mit den Gütern gehen, die für eine selbstverantwortliche Lebensführung unerlässlich sind. Nicht um eine angebliche Verteilungsgerechtigkeit. Daher darf der Sozialstaat sich nicht Klienten schaffen, sondern muss für Bürgerlichkeit und Selbstständigkeit werben. Er muss Anreizsysteme entwickeln, die zur Selbstbeanspruchung ermutigen. Er muss daher auch seine Aufmerksamkeit auf die Teile der Gesellschaft richten, die durch Steuern und Abgaben für den Unterhalt der ganzen Maschinerie sorgen. Denn dort wird Selbstverantwortlichkeit gelebt. Stattdessen hat man oft den Eindruck, dass die gegenwärtige Sozialstaatspolitik ausschließlich an einer Bewirtschaftung der Nicht-Erwerbstätigen interessiert ist.

Es wäre schön, wenn Sie uns die Parameter einer „liberalen Gerechtigkeit“ beispielhaft verdeutlichen könnten.

Erstens: Liberale Gerechtigkeit meint Chancengerechtigkeit. Es ist dafür zu sorgen, dass die institutionellen Rahmenbedingungen, die die Erfolgschancen unserer Lebensführung bestimmen, nicht zu Privilegien für wenige werden. Dazu gehört vor allem, dass der Sozialstaat auf kluge Weise investiv tätig wird und nicht immer nur die konsumtive Seite weiter verstärkt. Wir brauchen keinen Füllhorn-Sozialstaat, sondern einen Gestaltungs-Sozialstaat, der es jedem – insbesondere auf den Feldern der Ausbildung und Bildung – ermöglicht, seine Begabungsressourcen zu entwickeln.

Und zweitens?

Da die grundlegende Chance eigenverantwortlicher Lebensführung der Arbeitsplatz ist, ist liberale Gerechtigkeit vor allem an der Schaffung von Beschäftigungsverhältnissen interessiert. Eine Gesellschaft ist dann sozial gerecht, wenn sie möglichst viele Leute in Lohn und Brot bringt. Das heißt, sie ist nur dann gerecht, wenn die bisherigen sozialstaatlichen Leistungen daraufhin untersucht werden, inwieweit sie beschäftigungspolitisch förderlich sind...

...„Vorfahrt für Arbeit“...

...genau. Wenn erstens die Regel gilt, dass es besser ist, Arbeit zu subventionieren als Arbeitslosigkeit, dann kommt es zweitens darauf an, Instrumente und Anreize zu entwickeln, die dazu führen, dass Beschäftigungsangebote wahrgenommen werden. Und wenn ein Beschäftigungsverhältnis nicht den Lohn abwirft, der es gestattet, ein einigermaßen vernünftiges Leben zu führen, dann muss eben die staatliche Gemeinschaft – wir alle – in diese Arbeitsplätze investieren. Wir sehen, wie immer, wenn man sich ins Sozialstaatsdickicht begibt: Ökonomie und Moral erweisen sich als Bündnispartner: dort, wo ökonomisches Fehlverhalten des Sozialstaats zu konstatieren ist, finden sich immer auch grundlegende moralische Mängel.

Warum kann das einem eine liberale Partei wie die FDP nicht erklären? Die FDP erweckt fortlaufend den Eindruck, sie interessiere sich überhaupt nicht für die „soziale Frage“.

Ihr Vorwurf ist allzu berechtigt. In der politischen Arena begegnet uns zumeist ein ökonomisch reduzierter Liberalismus. Es ist kein allgemeines Bewusstsein dafür entstanden, dass der Liberalismus eine moralische Theorie ist, in deren Zentrum ein anspruchsvolles Menschenbild steht – und das verlangt, dass alle Institutionen daraufhin auszurichten sind, dass diesem Menschenbild weitgehend entsprochen wird. Gerade Liberale sollten Verständnis dafür haben, dass dieses Menschenbild nicht mittels des ökonomischen Alphabets ausbuchstabiert werden kann – und dass beispielsweise Hartz-IV-Empfänger nicht nur unter einer mangelnden Versorgung leiden, sondern dass sie auch ethisch depraviert werden. Aber diese Fehleinschätzung findet sich eben auch bei den Egalitaristen, die glauben, alle Not durch die Erhöhung von Transfers lindern zu können.

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