Mittlerweile hat die seit Jahren anhaltende Krise der Europäischen Währungsunion einen Kulminationspunkt erreicht. Nach endlosen und kontroversen Diskussionen, zahlreichen Hilfsoperationen für »angeschlagene Länder« in inzwischen riesiger Dimension und einer Serie von Gipfeltreffen scheint sich eine Klärung folgender Art abzuzeichnen. Es bleiben im Grunde nur zwei Optionen: Entweder Europa gelingt der Quantensprung in die politische Union, oder die Währungsunion bricht auseinander.
Das seit Längerem bemühte Motto »Wir brauchen mehr Europa« nimmt damit deutlichere Konturen an. So hatte zum Beispiel der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl am 6. November 1991 in seiner Regierungserklärung (unter Beifall von allen Seiten des Hauses) im Deutschen Bundestag erklärt: »Man kann dies nicht oft genug sagen. Die politische Union ist das unerlässliche Gegenstück zur Wirtschafts- und Währungsunion. Die jüngere Geschichte, und zwar nicht nur die Deutschlands, lehrt uns, dass die Vorstellung, man könne eine Wirtschafts- und Währungsunion ohne politische Union auf Dauer erhalten, abwegig ist.«
Politische Union ist kein Allheilmittel
Ist die fehlende politische Union als eine Art »Ursünde« die Wurzel aller Probleme der Währungsunion, dann scheint die Krise die Dringlichkeit zu belegen, jetzt das nachzuholen, was vor dem Beginn der Währungsunion am 1. Januar 1999 versäumt wurde. Demnach gilt es, das halb fertige Haus der europäischen Integration um das politische Element zu ergänzen und damit zu vollenden. Die Logik erscheint zwingend - und ist doch fehlerhaft. Als Wundermittel zur Heilung der Krise taugt die politische Union nicht.
Was bedeutet eigentlich politische Union? Was immer damit in Europa konkret gemeint sein mag, im Kern geht es um nicht weniger als das Ende des Nationalstaates. Wesentliche Kompetenzen werden auf die europäische Ebene verlagert. Dazu bedarf es einer europäischen Regierung und eines wahrhaft repräsentativen europäischen Parlamentes, ausgestattet mit allen notwendigen Rechten. Zu den fundamentalen Elementen europäischer Staatlichkeit zählt die Übertragung maßgeblicher Entscheidungen über Steuern und öffentliche Ausgaben.
Es bedarf keiner weiteren Erklärung: Hier handelt es sich um eine gewaltige politische und rechtliche Herausforderung. Eine vollkommen neue vertragliche Grundlage ist erforderlich, verbunden mit Änderungen nationaler Verfassungen und Referenden in einzelnen Mitgliedsstaaten. Kurzum, ein schwieriger, langer Prozess ist notwendig, ein Prozess, dessen Ausgang alles andere als gewiss erscheint.
Großbritannien drängt Europa zur Einigkeit
Die politische Union ist eine Vision für die künftige Gestalt Europas, genauer der Länder, die sich diesem Ziel verschreiben wollen. Sie als entscheidende Option für die Lösung der aktuellen Krise der Währungsunion zu sehen entbehrt jeder Logik. Und eher unter die Kategorie Absonderlichkeiten ist zu zählen, wenn aus Sorge um die eigene Konjunktur die Währungsunion von außen bedrängt wird, diesen Schritt genau aus diesem Grund zu vollziehen. Die anstehende Präsidentenwahl in den USA kann doch wohl kein Argument dafür sein. Amerika sollte aus seiner eigenen Geschichte wissen, wie lang und schmerzhaft der Weg zur stabilen Staatlichkeit ausfallen kann. Und geradezu grotesk wird das Drängen in diese Richtung aus Großbritannien, einem Land, das sich solchen Vorstellungen aus durchaus nachvollziehbaren Gründen nicht nur strikt verschließt, sondern selbst immer stärker die Rolle des Außenseiters einnimmt. Mit Juvenal möchte man sagen: Difficile est satiram non scribere. (Es ist schwer, keine Satire zu schreiben.)
Geld gegen Versprechen
Aber könnte nicht allein schon die Aussicht auf die engere politische Integration einen entscheidenden Beitrag zur Bewältigung der Krise der Währungsunion leisten? Nachdem niemand ernsthaft an einen Abschluss binnen weniger Jahre glauben kann, zeigt sich hier die problematische, ja gefährliche Seite solcher Vorstellungen. Hinter einer mehr oder weniger »europafreundlichen« Rhetorik steht das Begehren, mit Verweis auf die Absicht, den Weg in die politische Union zu gehen, grundsätzliche, wenn nicht unbegrenzte Finanzhilfen zu fordern.
Die Devise »Geld heute gegen das Versprechen einer politischen Union morgen« entlarvt sich jedoch bei näherem Hinsehen rasch als Falle. Mit der tatsächlichen Bereitschaft, die nationale Souveränität aufzugeben, ist es in den meisten Fällen nicht weit her. Und die maßlose Ausweitung der Finanzhilfen befördert nicht gerade den Reformwillen in den Krisenländern, während der daraus zwangsläufig folgende Zinsanstieg in den Geberländern dem europäischen Integrationsgedanken einen tödlichen Schlag versetzen könnte. Wie kann man den Bürgern in den bisher noch einigermaßen finanzpolitisch soliden Länden den Weg zur europäischen Staatlichkeit unter diesen Umständen als Fortschritt preisen?
Eurobonds unterschlagen Integrität stabiler Staaten
Eine »Fiskalunion« lässt sich nur bei entsprechender Übertragung der finanzpolitischen Souveränität auf die europäische Ebene, also innerhalb einer politischen Union, verwirklichen. Auf kaum absehbare Zeit stehen finanzielle Hilfen im Rahmen einer reinen »Transferunion« vor der kaum überwindbaren Hürde der notwendigen demokratischen Legitimierung. Eurobonds, also Anleihen einzelner Mitgliedsländer der Währungsunion, für die alle gemeinsam haften, untergraben die finanzpolitische Integrität der (bisher) solideren Länder. Die daraus resultierenden höheren Zinsen etwa für deutsche Staatsanleihen verkörpern einen Transfer von Geld der deutschen Steuerzahler an die Länder, die mit sinkenden Zinsen profitieren. Dies geschähe ohne demokratische Legitimierung - ein krasser Verstoß gegen das fundamentale Prinzip »no taxation without representation«.
Finanzhilfen als Totengräber politischer Integration
Gleiches gilt für so gut wie alle Vorschläge zur weiteren Vergemeinschaftung der Haftung für die Staatsschulden. Das trifft auch den Vorschlag eines Schuldentilgungsfonds durch den Sachverständigenrat, der bewundernswertes Vertrauen in die geforderte begleitende Konditionalität setzt. Eine Fortsetzung und Erweiterung der Finanzhilfen unter diesen Umständen würde sich nicht als Schrittmacher zur politischen Union, sondern könnte sich eher als Totengräber der Idee engerer politischer Integration erweisen. In dem Maße, in dem die EZB in diesen Prozess einbezogen ist, stehen auch deren Reputation und damit das Vertrauen in den Euro auf dem Spiel.
Die politische Union kommt, wenn überhaupt, erst nach vielen Jahren. Schon allein aus diesem Grunde taugt sie nicht als Mittel zur Bekämpfung der Krise der Währungsunion. Alle Finanzhilfen heute, welche die Errichtung der politischen Union voraussetzen und vorwegnehmen, sind in sich widersprüchlich und gefährlich, da sie hohe finanzielle Risiken für die bisher solideren Mitgliedsländer beinhalten. Dies würde nicht nur alle Bestrebungen in Richtung einer politischen Union unterminieren, sondern das Fundament eines solchen Prozesses zerstören, nämlich die Identifizierung der Bürger mit der europäischen Idee.
Die 10 Gebote für die Euro-Zone
Kein Staat darf sein Defizit über drei Prozent der Wirtschaftsleistung steigen lassen. Tut er es doch, wird automatisch eine Geldstrafe gegen ihn verhängt.
Der EU-Finanzministerrat darf Strafverfahren gegen Haushaltssünder nur noch in absoluten Ausnahmefällen stoppen - und dann nur mit Zweidrittelmehrheit. Das wird im neuen EU-Vertrag von Lissabon festgeschrieben.
Jeder Euro-Staat muss eine Schuldenbremse in seiner Verfassung verankern. Der europäische Pump-Kapitalismus gehört der Vergangenheit an.
Euro-Länder, die die Schuldenbremse nicht vorschriftsgemäß in ihrer Verfassung verankert haben, können vor dem europäischen Gerichtshof verklagt werden. Damit bekommt Europa in Finanzfragen Vorrang vor den Nationalstaaten.
Der griechische Schuldenschnitt bleibt ein einmaliger Sündenfall, der sich nicht wiederholen darf. Rechtsicherheit für Investoren wird im Gründungsvertrag des permanenten Euro-Rettungsschirms ESM festgeschrieben.
Die Euro-Zone bekommt eine echte Wirtschaftsregierung: Die Regierungschefs der Mitgliedstaaten treffen sich jeden Monat zu einem Gipfel, um ihre Wirtschaftspolitik zu koordinieren und das Wachstum gemeinsam anzukurbeln.
Die Europäische Zentralbank ist und bleibt unabhängig. Sie entscheidet selbst, ob und wie viele Staatsanleihen sie ankauft. Die Regierungen der Euro-Zone äußern sich dazu nicht.
Euro-Bonds sind nicht geeignet, die Schuldenkrise zu lösen. Sie werden vorläufig nicht eingeführt. Jeder Euro-Staat haftet weiter individuell für seine Schulden.
Deutschland und Frankreich übernehmen als größte Volkswirtschaften de facto die politische Führung in der Euro-Zone. Das steht so nirgends, wird aber von fast allen akzeptiert.
Die Euro-Zone marschiert voran in Richtung Fiskalunion und lässt dabei notfalls die zehn Nicht-Euro-Länder hinter sich. Wenn EU-Vertragsänderungen nicht mit allen 27 Staaten machbar sind, werden sie eben von den 17 Euro-Ländern allein beschlossen.
Währungsunion hat an Glaubwürdigkeit verloren
Bleibt also nur die andere Option, der Kollaps der Währungsunion? Dieses Risiko kann inzwischen leider nicht mehr ignoriert werden. Es gibt aber eine Erfolg versprechende Alternative. Die Europäische Währungsunion ist auf Verträge und Verpflichtungen gegründet, die in verhängnisvoller Weise unzählige Male und von allen Ländern gebrochen wurden. (Man denke nur an die Verletzung der Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes durch Deutschland und Frankreich in den Jahren 2003/04.) Diese zur Gewohnheit gewordene, ungeahndete Serie von Rechtsbrüchen hat einen unermesslichen Verlust an Glaubwürdigkeit des Projektes gemeinsame Währung zur Folge. Kann man das verlorene Vertrauen wiederherstellen, und wenn ja, wie?
Eine Währungsunion ohne politische Union kann nicht ohne das No bail-out- Prinzip, das zu den Fundamenten der Europäischen Währungsunion zählt(e), funktionieren und bestehen. Es muss das Prinzip gelten, dass jedes Land für die Fehler seiner eigenen Politik haftet. Finanzielle Hilfe der Gemeinschaft kann es nur ausnahmsweise geben, nur auf der Basis strikter Konditionalität und zu Zinssätzen, die den Reformwillen in den Krisenländern nicht untergraben. Unter solchen Bedingungen kann eine Währungsunion auch ohne politische Union überleben, jedenfalls für die absehbare Zukunft.
Aber, nach so vielen desillusionierenden Erfahrungen, ist es nicht naiv, zu erwarten, dass ein solches Regime glaubhaft etabliert werden kann? Muss diese Frage nicht bejaht werden? Wer aber glaubt, das Vertrauen in Verträge und Verpflichtungen könne nicht wiederhergestellt werden, der muss sich fragen lassen: Wie glaubwürdig sind dann alle sehr viel ambitionierteren Pläne und Versprechungen in Richtung einer politischen Union? Es hieße, die Naivität auf eine abenteuerliche Spitze zu treiben, nicht nur die Zukunft der Währungsunion, sondern das historische Vorhaben »Europa« unter solchen Annahmen auf derart unsicherem Boden errichten zu wollen.