Politikwissenschaftler Werner Patzelt "Gegen Europa zu sein, ist Ausdruck politischer Torheit"

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"Soziale Probleme sind politische Probleme"

Wie werden sich die wirtschaftlichen und sozialen Probleme in Europa entwickeln?

Soziale Probleme sind ebenfalls politische Probleme, weil sie sich in Demokratien doch in mangelndem Wählerzutrauen in die politische Klasse und in Stimmen für Protestparteien niederschlagen. Tatsächlich werden wir in Europa künftig sogar noch mehr soziale Probleme haben. Einesteils hat man europäische Staaten mit ganz unterschiedlichen Haushaltstraditionen und politischen Kulturen in die gemeinsame Eurozone gezwungen hat. Dort treffen nun ganz unterschiedliche Wertvorstellungen und Ideen darüber aufeinander, wie gute Staatsführung auszusehen hat, und das wirkt spaltend. Zur Verschärfung sozialer Probleme wird auch beitragen, dass sich die Europäische Union nicht gegen die Immigration aus Afrika oder dem Nahen Osten wirkungsvoll schützen kann. Wir müssen also damit rechnen, dass in jedem der kommenden Jahre Zehntausende, wenn nicht über hunderttausend Bürgerkriegsflüchtlinge, Armutsflüchtlinge und Asylbewerber in die Europäische Union kommen. Das wird, angesichts der in der Eurozone ihres Zusammenhalts willen nötigen Sparpolitik, bei den betroffenen Bevölkerungen nicht freudige Zustimmung hervorrufen, sondern Verteilungskonflikte auslösen.

Wie werden diese sozialen Probleme ganz konkret aussehen?

Wenn ein Staat wie Griechenland die Staatsaugaben kürzt und den öffentlichen Bediensteten weniger Geld zahlt, dann verarmt ein Teil der Bevölkerung. Und wenn nach Italien pro Jahr rund 30.000 Armutsflüchtlinge strömen und sich der Staat um sie mit seinen Sozialprogrammen kümmern muss, dann steht natürlich für italienische Staatsbürger weniger Geld zur Verfügung – zumal dann, wenn man große Neuverschuldung vermeiden will. Verteilungskonflikte ohne nachhaltige Lösung sind aber in einer Demokratie besonders riskante Konflikte.

Damit haben EU-Abgeordnete zu kämpfen

Sie rechnen also für die kommenden Jahre mit einem weiteren Anstieg?

Wir haben den Zenit der Probleme noch nicht erreicht. Auch ist noch unklar, welche Probleme wir wirklich lösen können – und welche Probleme wir einfach ertragen müssen.

Wie viel Macht hat das Europäische Parlament?

Das Europäische Parlament übt lediglich einen Teil der politischen Macht in der EU aus und kann deshalb alleine relativ wenig tun. Im Prinzip wählt es nur die Kommission und hält diese im Amt, und es beschließt, verändert oder lehnt Gesetzesvorlagen ab, die ihm von der Kommission vorgelegt werden. Derzeit dehnt das Parlament im Konflikt um die Bestellung des Kommissionspräsidenten zwar seine Macht aus, und wird aber dafür ein viel weniger parlamentsfreundliches Verhalten der EU-Regierungen ernten. Insgesamt stehen die Europäische Union und das Europäische Parlament an einem Scheideweg: Soll sich das Regierungssystem der EU mehr zu einem parlamentarischen  Regierungssystem hin mit starker Supranationalität entwickeln – oder soll die EU ein Unternehmen bleiben, das von souveränen Nationalstaaten betrieben wird? Je nach Haltung hierzu, muss man das Parlament beim weiteren Machtaufstieg fördern oder bremsen.

In welche Richtung bewegen wir uns da?

Das ist noch offen. Bekommt das Europäische Parlament noch mehr Macht als bisher, dann stellt sich bald die Frage, ob die Zusammensetzung dieses Parlaments demokratisch akzeptabel ist. Derzeit wiegt ja bei dessen Wahl die Stimme eines Zyprioten oder Maltesers wesentlich mehr als die eines Italieners oder gar eines Deutschen. Will man, dem Demokratieprinzip gemäß, gleiches Stimmengewicht für alle EU-Bürger, und will man zugleich das Europäische Parlament nicht weiter vergrößern, dann dürften die Kleinstaaten nur noch einen einzigen Abgeordneten  haben – und Deutschland müsste über 20 Abgeordnete mehr haben als bislang. Solch eine Umschichtung der Machtverhältnisse würde allerdings zu erheblichen Spannungen führen, wenn nicht sogar Zerfallstendenzen in der EU zeitigen. Wer das nicht will, kann entweder nicht mehr Macht für das Europäischen Parlaments befürworten – oder sollte sagen, dass ein starkes Parlament in der EU durchaus nicht zu mehr Demokratie führt.

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