Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist, dass die nationalen aber auch die europäischen Spitzenpolitiker das angeschlagene Vertrauen in die europäische Idee wieder herstellen. Hierfür muss man nun wieder zu einer klaren Vision finden, was Europa, die EU und auch der Euro-Raum sein sollen und perspektivisch sein können. Dass die Idee der europäischen Union eine erfolgreiche Idee ist, steht außer Frage.
Jedoch hat man in den letzten Jahren zunehmend vergessen, die Menschen mitzunehmen und die Ideen und Visionen zu erklären. Das muss jetzt nachgeholt werden. Dazu gehört auch, dass man in den anstehenden Verhandlungen mit UK eine klare Verhandlungsstrategie zeigt, die auch von der Idee Europas geprägt wird. Großbritannien braucht die Verträge mit der EU dringender als die EU, dies sollte man hierbei nicht vergessen.
Wo die großen Brexit-Baustellen sind
Seit der konservative Premier David Cameron seinen Rücktritt angekündigt hat, tobt ein Kampf um seine Nachfolge - nicht nur hinter den Kulissen. Als aussichtsreichste Kandidaten gelten Brexit-Wortführer Boris Johnson und Innenministerin Theresa May. Johnson werden die besten Chancen eingeräumt, auch wenn er erbitterte Feinde in der Tory-Fraktion hat. May könnte als Kompromisskandidatin gelten, sie war zwar im Lager der EU-Befürworter, hielt sich aber mit öffentlichen Äußerungen zurück.
Labour-Chef Jeremy Corbyn laufen nach dem Rauswurf seines schärfsten Kritikers Hilary Benn die Mitglieder seines Schattenkabinetts in Scharen davon. Mehr als die Hälfte seines Wahlkampfteams trat bereits zurück. Sie werfen Corbyn vor, nur halbherzig gegen einen EU-Austritt geworben zu haben, und stellen seine Führungsqualitäten in Frage. Dahinter steckt auch die Befürchtung, es könne bald zu Neuwahlen kommen. Viele Labour-Abgeordnete befürchten, mit dem Linksaußen Corbyn an der Spitze nicht genug Wähler aus der Mitte ansprechen zu können. Corbyn war im Spätsommer vergangenen Jahres per Urwahl an die Parteispitze gerückt, hat aber wenig Unterstützung in der Fraktion.
Der scheidende Premier David Cameron kündigte an, die offiziellen Austrittsverhandlungen mit der EU nicht mehr selbst einzuleiten. Der Ablösungsprozess könnte damit frühestens nach Camerons Rücktritt beginnen - womöglich erst im Oktober. Äußerungen anderer britischer Politiker lassen befürchten, dass sich die Briten gern sogar noch mehr Zeit lassen würden. Am allerliebsten würden sie schon vor offiziellen Austrittsverhandlungen an einem neuen Abkommen mit der EU basteln. Brüssel, Berlin und Paris dringen aber auf einen raschen Beginn der Austrittsverhandlungen.
Seit dem Brexit-Votum liegt die Frage nach der schottischen Unabhängigkeit wieder auf dem Tisch. Die Schotten stimmten - anders als Engländer und Waliser - mit einer Mehrheit von 62 Prozent gegen einen Brexit. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon kündigte in Edinburgh an, Vorbereitungen für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum einzuleiten. Boris Johnson deutete jedoch bereits an, dass er als Premierminister da nicht mitspielen würde: „Wir hatten ein Schottland-Referendum 2014 und ich sehe keinen echten Appetit auf ein weiteres in der nahen Zukunft“, schrieb Johnson in einem Gastbeitrag im „Daily Telegraph“. Auch Premierminister David Cameron erteilte einem erneuten Schottland-Referendum eine Absage.
In beiden Teilen der Insel herrscht Sorge, der Brexit könnte dazu führen, dass wieder Grenzkontrollen eingeführt werden und der Friedensprozess gestört wird. Irlands Ministerpräsident Enda Kenny versicherte, seine Regierung arbeite eng mit Belfast und London zusammen, um die Grenzen offenzuhalten. Ähnlich wie in Schottland stimmte auch in Nordirland eine Mehrheit der Wähler gegen den Austritt des Königreichs aus der EU. Die nordirische nationalistische Partei Sinn Fein forderte bereits eine Abstimmung über eine Wiedervereinigung Irlands und Nordirlands.
Das britische Pfund verlor seit dem Brexit-Votum massiv an Wert gegenüber dem Dollar und fiel auf den niedrigsten Stand seit drei Jahrzehnten. Auch die Börsenkurse stürzten zeitweise in den Keller. Der britische Finanzminister George Osborne versuchte am Montag, Sorgen an den Märkten zu zerstreuen. Großbritannien sei auf alles vorbereitet, sagte Osborne. Noch am Tag nach der Brexit-Entscheidung war Notenbank-Chef Mark Carney vor die Kameras getreten und hatte angekündigt, die Bank of England könne bis zu 250 Milliarden Pfund in die Hand nehmen, um weitere Verwerfungen zu verhindern. Trotz allem verlor das Pfund weiter an Wert.
Wenn die europäischen Spitzenpolitiker die Idee von Europa wieder angemessen und glaubhaft vertreten, sollte das Vertrauen in Europa auch schnell wieder gestärkt werden. Dies ist für Investoren in die wirtschaftliche Infrastruktur, wie auch für die Kapitalinvestoren wichtig. Denn Europa war und ist auch weiterhin ein attraktiver Platz für Investitionen. Dieses wertvolle Kapital sollte man nun nicht verspielen.
Wenn sich diese politische Entwicklung einstellt - und hierfür gibt es einige positive Anzeichen - dann hätte das Referendum in Großbritannien und die britische Bevölkerung die EU einen großen Schritt nach vorne gebracht. Der Brexit wäre dann das Beste, was der EU in den letzten Jahren passiert ist. Zudem könnte sich dann auch die britische Bevölkerung nochmal fragen, ob sie tatsächlich bei ihrem jetzigen Entschluss bleiben will.
Falls die europäische Politik sich jedoch nicht ändert und den teilweise selbstverliebten Kurs, der sich nur wenig um die Menschen kümmert, beibehält, dürften wir mit einer andauernden Fragmentierung konfrontiert sein, die auch in einem Zerfall der EU enden kann. Die politischen, wirtschaftlichen und auch sozialen Folgen wären dann sehr negativ, aber in ihrer Ausprägung sehr unterschiedlich in den EU-Ländern.
Die jetzige Situation könnte von manchen Ländern im Euroraum genutzt werden - quasi unter dem Deckmantel einer größeren Integration in Europa - die lange geforderte Vergemeinschaftung von Risiken voranzutreiben. Dies brächte aber für den Euro-Raum ebenfalls erhebliche Gefahren, denn diesen Kurs würden die Bevölkerungen in den Ländern, die das Risiko der anderen Länder übernehmen sollen, kaum akzeptieren. Dies wäre dann wieder die Stunde der Populisten und Manipulatoren. Die Brexit-Abstimmung hat gezeigt, dass eine zunehmende Politikverdrossenheit es den politischen Manipulatoren sehr leicht macht, ihre Ideen zu verkaufen.