Wirtschaftswissenschaft Der Vater des Protektionismus

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Ökonomisches Weltbild aus den USA

Die Amerikanische Flagge Quelle: AP

Die Strafe für die Veröffentlichung lautet zehn Monate Festungshaft. List flieht nach Frankreich, dann in die Schweiz. Doch auch wenn er dort geduldet ist, politischer Anspruch und monetäre Not treiben ihn zurück nach Schwaben. Er spekuliert auf ein Gnadengesuch, doch im Sommer 1824, wenige Tage nach seiner Rückkehr, wird er festgesetzt und muss seine Festungshaft auf dem Hohenasperg, dem gefürchtetsten Gefängnis seiner Zeit, antreten. In dramatischen Appellen unter anderem an seinen Verleger Cotta in Stuttgart dringt er darauf, sich für seine Freilassung einzusetzen. Schließlich gelingt das, doch als Gegenleistung muss er in die USA auswandern.

So schwer dem Patrioten List diese Entscheidung fällt, für sein ökonomisches Werk wird sie zum Dreh- und Angelpunkt. List erreicht Amerika fast mittellos, doch unter der Obhut eines mächtigen Mannes. Den Marquis de la Fayette, Held der französischen Unabhängigkeitsbewegung und des amerikanischen Bürgerkriegs, hatte List während seiner Flucht in Paris kennengelernt. Er nimmt ihn mit auf Reisen durch die Staaten Neuenglands. Wie schon in der Heimat macht List sich bald als Publizist einen Namen. Als er dann eigenhändig einen bedeutenden Kohlefund macht und den Bau einer Eisenbahnlinie organisiert, geht es auch wirtschaftlich rasant bergauf. Doch auch wenn List inzwischen die amerikanische Staatsbürgerschaft hat, es zieht ihn zurück in die Heimat. 1830 nimmt er das Angebot des Präsidenten Andrew Jackson an, die USA als Konsul für alle deutschen Lande in Hamburg zu vertreten. Zumindest glaubt er das, als er Anfang Dezember das Schiff gen Le Havre betritt.

Wichtiger noch als für seine persönliche Finanzlage ist der Aufenthalt in den USA für sein ökonomisches Weltbild, das er zunächst als Beobachter in seinen „Mittheilungen aus Amerika“ beschreibt und dann in den „Outlines of Political American Economy“ 1827 auch als theoretisches Konstrukt zu Papier bringt. Er beschreibt darin ein Land, dem es mithilfe von Schutzzöllen gelungen ist, neben der englischen Handelsmacht erfolgreich zu bestehen. Er kommt zu der Überzeugung, dass die Freihandelsideologie vor allem ein Mittel Englands ist, schwächer entwickelte Staaten in Abhängigkeit zu zwingen. In seinem Hauptwerk fragt er „ob nicht gar jene Theorie nur darum so weitbauchig angelegt ist, damit sie, als ein hellenisches Ross, Waffen und Männer berge und uns verleite, unsere Schutzmauern mit unsern eigenen Händen niederzureißen“. Die britischen Politiker und Ökonomen spielen in seinen Augen ein falsches Spiel: „In ihren Worten waren sie immer Philanthropen, in ihrem Streben jederzeit Monopolisten.“

Idee des Erziehungszolls

Als Beispiel für seine These dient ihm Portugal, das sich 1703 auf einen folgereichen Vertrag eingelassen hatte: Als Gegenleistung für ein portugiesisches Weinmonopol auf dem englischen Markt musste das südeuropäische Land alle Schutzzölle gegenüber England für den Heimatmarkt fallen lassen. Auch wenn gerade dieser Vertrag dem Freihandelstheoretiker David Ricardo als Paradebeispiel für die Vorzüge offener Märkte diente, aus Lists Sicht waren die Folgen verheerend: „Unmittelbar nach Vollziehung ward Portugal von englischen Manufakturwaren überschwemmt, und die Folge war: plötzlicher und vollständiger Ruin der portugiesischen Fabriken.“

Er setzt deshalb auf eine dreistufige Zollpolitik, an deren Ende gleichwohl das Ideal der möglichst unbeeinflusst agierenden Marktteilnehmer steht. Er denkt dabei aus der Sicht des Staates in Entwicklungsstufen. Auf der untersten Stufe steht der Agrarstaat ohne eigene Industrien. Für den ist es zunächst attraktiv, sich auf freien Handel mit entwickelten Nationen einzulassen. Denn so findet er Absatzmärkte für seine Waren und kann selbst Maschinen importieren, um die Produktion effizienter zu gestalten. Sobald im Land genügend Kapital und Wissen vorhanden ist, ist es aus Sicht Lists jedoch notwendig, ein System von Schutzzöllen zu entwickeln, das den Aufbau eigener Industrien ermöglicht. Er sieht dabei klare Grenzen für diese „Erziehungszölle“: „Das zweckmäßige Schutzsystem gewährt den inländischen Manufakturisten kein Monopol, sondern nur denjenigen Individuen eine Garantie gegen Verluste, die ihre Kapitalien neuen, noch unbekannten Industrien widmen.“

Wenn dieser Schritt erfolgreich ist, muss der Staat alsbald gegensteuern. Eine Rückkehr zum Freihandel wird nötig, sobald sich ein Land zur Handelsmacht entwickelt hat. Sonst stellt sich nach Lists Ansicht Trägheit unter den Produzenten ein. „Indem man nur zu erhalten, nicht aber zu erwerben strebt, geht man zugrunde“, beschwört List den Wert des Konkurrenzdrucks, „denn jede Nation, die nicht vorwärts schreitet, sinkt tiefer und muss zuletzt versinken.“ So selbstverständlich das bei List klingt, in der Praxis ist sein Konzept voller Tücken. Der politische Versuch, eine Marktabschottung zu beenden, ruft stets und überall mächtige Interessengruppen auf den Plan. Fast alle Länder, die sich an der Umsetzung von Lists Theorien versucht haben, sind an der Frage des richtigen Timings gescheitert.

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