Krisenbewältigung Die Weltwirtschaft sucht eine neue Ordnung

Die Finanzkrise hat die Machtverschiebung hin zu den großen Schwellenländern beschleunigt. Die Krisengipfel der G20 haben die Umrisse einer neuen Weltwirtschaftsordnung erkennen lassen. 2010 wird sich zeigen, wie viel die neue multipolare Architektur tatsächlich aushält.

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Bauarbeiter in Schanghai. Der Bauboom in China symbolisiert den Aufstieg Chinas. Schwellenländer gewinnen international stark an Bedeutung. Quelle: ap Quelle: handelsblatt.com

DÜSSELDORF. Sieht so eine Weltwirtschaftskrise aus? Nagelneue Automobile fahren auf frisch reparierten Straßen, fleißige Handwerker sanieren öffentliche Gebäude, Arbeiter strömen zur Schicht in die Fabrik, Weihnachtseinkäufer schleppen Tüten, die Aktienkurse steigen. Alles wie immer, die gelegentlichen Meldungen über Bankenpleiten und drohende Staatsbankrotte verschwinden so langsam im Nachrichtenstrom.

Die Jahreswende atmet Normalität. Die schwerste Wirtschaftskrise seit den 1930er-Jahren scheint dank entschlossener Aktionen der Politik überwunden. Mit Abwrackprämien, Konjunkturprogrammen, Kurzarbeit, Steuererleichterungen und Transferzahlungen ist es gelungen, den Einbruch der Wirtschaft zu stoppen und die Rezession in den westlichen Industriestaaten schneller als erwartet zu beenden. Das Finanzsystem ist stabilisiert und beginnt, wieder zu funktionieren. Nun geht es aufwärts, wenn auch langsamer als vor der Krise. Das ist die Version der Optimisten.

Politik hat Potemkin'sche Dörfer errichtet

Pessimisten formulieren das anders. Sie sehen, dass die Staaten nicht eine Brücke über die tiefe Rezessionskluft in eine neue globale Wachstumsphase, sondern gewaltige Potemkin?sche Dörfer errichtet haben, hinter deren Kulissen sie ungelöste Krisen vor dem Volk verbergen. Schließlich lässt sich für die meisten Länder leicht nachrechnen, dass es ohne fiskalische Stimuli in schwindelerregender Höhe gar keinen Aufschwung gäbe.

Die USA und viele Länder Europas würden ohne die staatlichen Infrastrukturausgaben und Konsumhilfen noch immer in der Rezession stecken. Wie sie ohne weitere staatliche Hilfen herausfinden sollen, ist nicht abzusehen. Ein Rückfall in die Rezession droht, und er würde eine neue Welle von Bankenpleiten auslösen, denn auch hier sind strukturelle Probleme ungelöst.

Große Schritte hin zu neuer Weltwirtschaftsordnung

Sowohl für die These der Optimisten von der überstandenen Krise als auch für die Antithese von den Potemkin?schen Dörfern gibt es gute Argumente. Die konjunkturelle Wende ist geschafft, aber zu dem Preis, dass die Staaten sich gewaltig verschuldet haben. Das Finanzsystem ist stabilisiert, aber noch nicht reformiert. Wir haben die Ursachen der Krise zwar ausführlich diskutiert, aber noch nicht beseitigt. Aber eines ist ganz wichtig: Wir haben große Schritte hin zu einer neuen Weltwirtschaftsordnung unternommen.

Die Weltgemeinschaft hat, als die Lage wirklich dramatisch war, eine spontane Antwort gefunden. Es ist im Rückblick erstaunlich, wie schnell die traditionellen Wirtschaftsmächte USA, Europa und Japan bereit waren, ihren Krisenstab von der eingespielten G8 in die wenig erprobte G20 zu verlegen. Intuitiv haben sie verstanden, dass eine globale Wirtschaftskrise nur unter Einbeziehung aufstrebender Mächte wie China, Indien und Brasilien zu lösen ist. Nun gibt es kein Zurück mehr.

G20 ist richtige Formation, um globale Probleme anzugehen

Auf der anderen Seite hat sich gerade gezeigt, dass der Kreis der Teilnehmer auch nicht zu groß werden darf, wenn man ernste globale Probleme wirklich lösen will. Der Klimagipfel in Kopenhagen, eine Vollversammlung der Völkergemeinschaft, scheiterte, weil Entwicklungsländer sich nicht von den führenden Industrie- und Schwellenländern bevormunden lassen wollten. Eine vernünftige Vorbereitung im G20-Kreis hätte die Erfolgsaussichten des Klimagipfels deutlich verbessert.

Die G20-Formation scheint also die richtige zu sein, um 2010 die drängenden globalen Probleme anzugehen. In ihr vereinen sich die traditionellen Industriestaaten - Nordamerika, Westeuropa, Japan - mit den Bric-Ländern Brasilien, Russland, Indien und China und einigen mittelgroßen Schwellenländern. 90 Prozent des Welthandels kommen da zusammen - es lassen sich also sinnvoll Absprachen über die Ordnung der Weltwirtschaft treffen.

Der Wandel zur multipolaren Welt

Mit dem Aufstieg der G20 vollzieht sich der von vielen vorausgesagte Wandel zur multipolaren Welt. Das Ende des Kalten Krieges und die Entfesselung des Weltmarkts haben den weltweiten Austausch von Menschen und Ideen, Waren und Dienstleistungen auf eine neue Stufe gehoben. Das hat Hunderten von Millionen Menschen Wohlstand gebracht. Und es hat das Selbstbewusstsein ihrer Regierungen gestärkt.

Jahrzehntelang dominierten die Ideen des angloamerikanischen Kapitalismus Finanzmärkte und internationale Wirtschaftsorganisationen. Noch in der Asien-Krise 1997/98 rückten junge US-Ökonomen aus, um den angeschlagenen "Tigerstaaten" Südostasiens im Gegenzug für Milliardenkredite eine Wirtschaftspolitik nach westlichem Muster einzutrichtern. Diese Erfahrung hat sich in Asien tief eingebrannt: Mit Devisenreserven in Billionen-Dollar-Höhe sichern diese Länder und vor allem China ihre Eigenständigkeit für künftige Krisenfälle ab.

Krise hat angloamerikanischen Kapitalismus diskreditiert

Die aktuelle Finanzkrise, deren Höhepunkt die Pleite der Wall-Street-Bank Lehman Brothers im September 2008 war, kehrt die Verhältnisse um. Sie wurde durch eine fahrlässige Wirtschafts- und Geldpolitik in den USA ermöglicht und erschütterte vor allem die Wall Street, die Londoner City und in der Folge andere westliche Finanzplätze. Die Schwellenländer, traditionell Hauptleidtragende jeder Finanzkrise, kamen meist unbeschadeter davon als die großen Industrieländer. Diesmal musste der Westen sie gar zur Unterstützung rufen, um eine Kernschmelze des Weltfinanzsystems abzuwenden. Der angloamerikanische Kapitalismus ist schwer diskreditiert.

In der multipolaren Welt der G20 ist eben jeder von jedem abhängig. Im Kern der Gruppierung stehen die sogenannten G2-Länder USA und China in einem symbiotischen Verhältnis. Die USA benötigen ständig wachsende Mengen an Kapital aus China, um ihre wachsende Staatsverschuldung zu finanzieren, und die Chinesen brauchen die USA als Absatzmarkt für ihre Konsumprodukte und sicheres Anlageziel für ihre Devisenreserven. Die Europäer und Japaner brauchen beide Länder als Exportmärkte für Investitionsgüter.

Ungleichgewichte sind lange nicht ausgeräumt

Viele Ökonomen sehen die großen Ungleichgewichte, die zwischen den Wirtschaftsblöcken bestehen, als fundamentale Ursache der Weltwirtschaftskrise. In wortreichen Gipfelstatements haben die G20-Staaten versprochen, daran durch aktive Wirtschaftspolitik etwas zu ändern.

Die Realität sieht leider anders aus: Die Wirtschaftskrise hat zwar dafür gesorgt, dass sich die lange zu hohen Leistungsbilanzdefizite der USA und Großbritanniens verringert und die Überschüsse Chinas, Japans und Deutschlands verkleinert haben. Das könnte noch eine Zeit so weitergehen, weil Dollar und Pfund schwach sind und der Euro stark ist und China viel Geld in die Binnenwirtschaft pumpt. Aber ein grundsätzlicher strategischer Wandel ist nicht abzusehen: Deutschland und Japan setzen voll auf Exporte, um aus der Krise zu kommen, und die USA stützen den heimischen Konsum.

Konjunkturprogramme verzögern Anpassung an multipolare Welt nur

Man kann die Weltwirtschaftskrise auch als Krise der Anpassung an die multipolare Welt interpretieren. Die alten Industrieländer mögen sich nicht damit abfinden, dass sie künftig Wachstumsraten von einem bis zwei Prozent als Normalität akzeptieren müssen, während große Schwellenländer um sechs bis acht Prozent zulegen. Also haben sie - wie die USA und Großbritannien - eine riesige private Überschuldung zugelassen oder - wie Deutschland und Japan - eine überdimensionierte Exportindustrie gezüchtet, um die Wachstumsraten künstlich hochzuhalten.

Als das Kasino-Spiel mit den privaten Schuldenbergen aufflog, übernahmen die Staaten die Schulden. Nun kurbeln sie die westlichen Volkswirtschaften an und verschieben die Anpassung weiter in die Zukunft. Doch einmal wird sie passieren müssen. Am Ende werden wohl die Finanzmärkte die Regierungen zwingen, ihre Defizite einzuschränken. Erst dann werden alle sehen, wie stark die Industrieländer gegenüber den Schwellenländern an wirtschaftlicher Macht eingebüßt haben.

Vor diesem Hintergrund wird es der G20 kaum gelingen, die globalen Ungleichgewichte wegzuverhandeln. Sie kann aber eine wichtige Rolle dabei spielen, die schmerzhafte Anpassung an die neuen Realitäten zu gestalten.

Kurzfristig ist es ihre wichtigste Aufgabe, eine effektive Aufsicht der globalen Finanzmärkte zu organisieren. Hier hat die Gruppe auch die konkretesten Beschlüsse gefasst, etwa über neue Eigenkapitalregeln für Banken und eine Koordination der nationalen Finanzaufsichtsbehörden. Doch umgesetzt werden müssen sie eben immer national, und da steht zu befürchten, dass 2010 bei weiterer Beruhigung der Lage der Reformeifer erlahmen wird.

Bankmultis halten Fäden weiter in der Hand

Das Ergebnis wird sein, dass das Weltfinanzsystem noch stärker in den Händen globaler Bankmultis konzentriert ist. Die Chance, systemrelevante Großbanken weltweit in kontrollierbare Einheiten zu zerschlagen, wird wohl nur wiederkommen, wenn es noch eine spektakuläre Pleite gibt. Auch um Themen wie die Regulierung von Ratingagenturen ist es still geworden. Wo bleibt der Druck der Neuen im Klub der globalen Wirtschaftslenker?

Die größte Herausforderung der G20 dürfte es sein, einen neuen wirtschaftspolitischen Konsens für die Welt zu finden. Es gibt viele gemeinsame Anliegen, die das lohnend erscheinen lassen: die Gefahr des Protektionismus, der Zugang zu Rohstoffen, die Kontrolle globaler Industrie- und Finanzkonzerne und natürlich der Schutz des Weltklimas und der natürlichen Ressourcen.

Es ist ein Verdienst der Bundeskanzlerin, mit dem Entwurf einer Nachhaltigkeits-Charta einen Denkanstoß dafür gegeben zu haben. Die Menschen auf der ganzen Welt machen sich Gedanken darüber, was das rasante Wirtschaftswachstum in China, Indien und anderswo für die Erde bedeutet, wie sich das Ziel, den Hunger zu besiegen und alle Menschen an den Früchten der Globalisierung teilhaben zu lassen, mit der Endlichkeit der Ressourcen und dem Klimaschutz verträgt. Der Kapitalismus mag die Auseinandersetzung mit dem Sozialismus gewonnen haben, aber über seine Spielregeln reden ab jetzt mehr Menschen mit.

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