Ernährung Tiere müssen Industriemüll fressen

Nicht nur Lebensmittel werden teurer – auch das Futter. Die Folgen sind fatal: Rinder, Schweine und Hühner müssen zunehmend Abfall schlucken, der in Unternehmen anfällt. Das gefährdet nicht nur die Tiere, es bedroht auch unsere Gesundheit.

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Schweine Quelle: AP

Das rote Backsteingebäude hebt sich weithin sichtbar von den umliegenden Feldern und Wiesen ab. Hier, auf dem Bauernhof, keine 40 Minuten mit dem Auto von der Berliner Innenstadt entfernt, halten Lothar Feldbinder und seine Söhne Thorsten und Carsten 140 Rinder und ein paar Hühner. Die Feldbinders verkaufen Milch, Eier und Fleisch. Es kommt einer Idylle gleich: Friedlich kauend stehen die braunweißen Kühe im Stall. Ihr Futter sieht aus wie Heu und riecht auch so.

Erst bei näherem Hinsehen sind zwischen den Halmen braune Stäbchen zu erkennen. M 183, ein sogenanntes Milchleistungsfutter sei das, sagt Thorsten Feldbinder. M 183 gebe den Tieren Kraft, und kräftige Tiere geben mehr Milch. M 183 bestehe aus frischem Getreide vom Acker. Glaubt er.

Fiese Abfälle

Doch die Stäbchen sind weder frisch noch vom Acker. Sie sind ein Mix aus Abfällen von Getreidemühlen, Zuckerfabriken, Schokoladenmanufakturen und der Sonnenblumenölproduktion, teilt der Hersteller Fürstenwalder-Futtermittel-Getreide-Landhandel mit. Vom Feld stammen nur 24,6 Prozent der Kraftmahlzeit. Und das ist noch harmlos.

Mehr als die Hälfte des industriell erzeugten Tierfutters besteht mittlerweile aus teils problematischen Abfällen: Fischhäute, Kaffeesatz und Industriefette – all diese Nebenprodukte würden über Tiermägen „veredelt“, sagt Futtermittelexperte Walter Staudacher von der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft (DLG). Genau diese Veredelung wird nun zu einer verlässlichen Quelle für immer neue Lebensmittelskandale. Denn das Futter aus Müll enthält oft Schadstoffe wie Pestizide, Nervengifte wie Dioxin, krebsverdächtiges Acrylamid und giftiges Methanol – alles Stoffe, die nachweislich auch der menschlichen Gesundheit schaden.

Der Dioxinskandal zur Jahreswende und die aktuelle Ehec-Angst – daran zweifelt kaum ein Experte – sind daher erst eine Art Vorspiel für das, was in den nächsten Jahren kommen kann: „Es herrscht extremer Preisdruck. Die Zutaten werden möglichst billig eingekauft“, sagt Frank Mörsberger, Futtermittelexperte vom Kieler Lebensmittellabor Agrolab, „auch wenn sie den branchenspezifischen Qualitätsanforderungen nicht gerecht werden.“ Nach dem Skandal ist vor dem Skandal.

All das wird von den steigenden Weltmarktpreisen für Grundnahrungsmittel noch beschleunigt. Allein die Kosten für Getreide haben sich seit 2010 verdoppelt. Und so versuchen Hersteller, das Korn immer öfter durch Abfälle zu ersetzen: Der Anteil von Getreide im Futter wird laut Schätzungen des Deutschen Verbands Tiernahrung dieses Jahr von 48 Prozent auf unter 45 Prozent sinken. Damit wird laut dem Verband immerhin eine halbe Million Tonnen Getreide eingespart.

Ausgerechnet der grüne Kraftstoff verstärkt diese Entwicklung noch. Denn weltweit wechseln Abertausende Bauern zur oft lukrativeren Produktion von Biospritrohstoffen wie Mais, Soja und Raps. Ihre Anbauflächen stehen damit nicht mehr für die Lebensmittel- und die Futterherstellung zur Verfügung.

Dieser Tank-Teller-Trog-Wettbewerb treibt die Preise zusätzlich – und noch mehr Futteranteile müssen durch Abfälle ersetzt werden, um die Preise zu halten.

Abfall der Spritproduktion

Das Paradoxe an der Situation ist, dass Tiere von der Biospritproduktion in der Nahrungskette eine Stufe zurückgedrängt werden: Der Mais, der früher in den Trog kam, landet heute zunächst im Bioreaktor. Erst die Abfälle aus der grünen Treibstoffproduktion kommen in den Trog.

Und da fangen die Probleme an.

Am eindrucksvollsten lässt sich das an der Chemikalie Glycerin studieren, von der laut dem Verband Deutsche Tiernahrung jedes Jahr einige Hunderttausend Tonnen verfüttert werden – mal als klare Flüssigkeit, mal als dunkelbraune, ranzige Masse, wie Insider bestätigen.

Glycerin entsteht, wenn Abfallfette der Industrie oder Rapsöl zu Biodiesel raffiniert werden. Schon vor Jahren klagten Grünsprit-Hersteller über immense Glycerin-Mengen, die sie nicht mehr loswürden. Zwar wirkt die Chemikalie in der Haut wie ein Feuchtigkeitsspeicher und ist daher auch bei Kosmetikherstellern gefragt. Doch deren Bedarf ist längst gedeckt.

So gerät die Futtermittelindustrie in den Fokus der Sprithersteller. Seit 2004 verkauft etwa der Futterzusatzerzeuger Dr. Pieper aus dem brandenburgischen Neuruppin jährlich 1500 Tonnen Glycerin-Abfälle aus der Biodieselproduktion direkt an Milchviehbetriebe.

Die Bauern nehmen es gerne. Weil Glycerin süßlich schmeckt und viel Energie enthält, „fressen die Kühe mehr und geben mehr Milch“, sagt Unternehmenschef Bernd Pieper. Mehrere Millionen Euro Umsatz erwirtschaftet sein Unternehmen nach eigenen Angaben pro Jahr mit dem Verkauf von Futterkomponenten. Dabei erscheint es fast zynisch, dass Pieper zugleich ausgerechnet einen Biohof betreibt, auf dem Glycerin & Co. tabu sind.

Generell seien nur bis zu fünf Prozent Glycerin im Futter vertretbar, warnt die DLG. Denn es ist einem natürlichen Energiespeicherstoff etwa aus Nüssen zwar ähnlich – aber nicht identisch. Daher ist es problematisch, dass oft mehr beigemischt wird. Die DLG-Forscher untersuchen regelmäßig, was ohne Ertragseinbußen in den Trog darf. Die Stellungnahme ist jedoch nur eine Empfehlung. Wie gesund Fleisch und Milch von glyceringemästeten Tieren für den Menschen sind, beantworten die Experten erst gar nicht.

Breit angelegte Studien mit dieser Fragestellung fehlen – trotz beunruhigender Indizien: Marta Terré, Agrarwissenschaftlerin aus dem spanischen Katalonien, untersuchte 102 Lämmer, die sie in drei Gruppen aufteilte. Eine Gruppe ernährte sie glycerinfrei, eine weitere bekam fünf und eine andere zehn Prozent der Chemikalie. Terré beobachtete, dass mit dem Anteil von Glycerin im Futter auch der Gehalt an kürzerkettigen, gesättigten Fetten im Fleisch zunimmt.

Diese Fette treiben den Cholesterinspiegel im Blut des Menschen in die Höhe und begünstigen laut der Deutschen Gesellschaft für Ernährung Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Tonnenweise weitere Abfälle

Auch die europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit in Brüssel hat das Thema mittlerweile auf der Agenda: Sorge bereiten den Fachleuten die Verunreinigungen im Rohglycerin. Bis zu einem Fünftel der vermeintlich Kraft spendenden Futterpampe besteht aus anderen Reststoffen der Biodieselproduktion, darunter Salze, giftiges Methanol – das als Blindmacher in selbst gebranntem Schnaps gefürchtet ist – und andere noch nicht identifizierte Chemikalien.

Dass diese Mixtur problematisch sei, räumen selbst die Experten vom Deutschen Verband Tiernahrung ein: „Da hat es unliebsame Vorfälle gegeben.“ Die Bayerische Landesanstalt für Landwirtschaft in Grub geht etwas mehr ins Detail und schreibt von Vergiftungen bei Schweinen aufgrund des hohen Salzgehaltes. Die Tiere sind letztlich innerlich vertrocknet.

Während die Wissenschaft nicht recht vorankommt, landen immer weitere Abfälle aus Biospritfabriken im Futter: Neben Glycerin stehen neuerdings Hunderttausende Tonnen sogenannte Schlempe auf dem Speiseplan von Schwein, Kuh und Huhn.

Schlempe ist eine eiweißhaltige, braune Masse, die zurückbleibt, wenn Getreide zu Bioethanol vergoren wird. Einer der führenden europäischen Bioethanolproduzenten CropEnergies aus Zeitz bei Leipzig, verarbeitet sie zu kleinen, braunen Stäbchen und vermarktet sie an Mischfutterhersteller. Das Futter riecht säuerlich, ein bisschen wie vergorener Hefeteig.

Aus 2,7 Kilo Roggen gewinnt das Unternehmen einen Liter Sprit und ein Kilo Viehfutter, rechnet CropEnergies-Manager Lutz Guderjahn vor. „Es heißt immer Tank versus Teller, aber wir praktizieren Tank und Trog und damit Teller.“ Guderjahn nennt die Stäbchen ein internes Hedging-Instrument, da ihr Absatz darüber entscheidet, ob die Bioethanolfabrik profitabel läuft: Würde das Unternehmen die 250 000 Tonnen Schlempe pro Jahr kostenpflichtig entsorgen, müsste das Werk schließen. So werden sie verkauft und bringen 10 bis 20 Prozent des Gesamtumsatzes ein. Seit 2004 geht das so.

Jahre später, erst Ende 2009, prüft die Deutsche Landwirtschafts-Gesellschaft erstmals, ob sich Schlempen als Futter fürs Vieh überhaupt eignen. Fazit: Ein Mastbulle vertrage ein Kilo Weizen- und Gerstenschlempe am Tag. Allerdings dürfe das nicht die einzige Eiweißquelle sein, weil es dem Rückstand an Lysin mangelt, ein Eiweißbaustein, den alle Tiere für gesundes Wachstum brauchen. Deshalb müsse Lysin künstlich zugesetzt werden.

Die Nährstoffdefizite im Futter haben sich in jüngster Zeit ohnehin verschärft, weil die Verarbeiter noch den letzten Inhaltsstoff aus Schlempe und anderen Reststoffen isolieren und separat verkaufen. Aus der grüngelben Molke etwa, die in Käsefabriken übrig bleibt, werden beispielsweise Eiweiße wie Albumin gefiltert. Der ausgelaugte Rückstand wird dann künstlich mit Vitaminen und Mineralstoffen angereichert, damit die Tiere nicht an Mangelerscheinungen zugrunde gehen.

Genmanipulierte Schlempe

Sorgen bereiten Experten wie Agrarforscher Nicolas di Lorenzo von der Texas Tech University auch die Mikroben in der Schlempe. Vielfach werden mittlerweile gentechnisch veränderte Hefen im Gärprozess verwendet, die möglichst viel Biosprit aus dem Korn holen sollen. Diese genmanipulierten Kleinstlebewesen werden mit der Schlempe von Kühen, Schweinen und Hühnern gefressen – mit unbekannten Folgen. CropEnergies betont, dass man nur natürliche Hefen verwende. Doch auf gentechnisch veränderte Mikroben wird die Schlempe überhaupt nicht routinemäßig geprüft.

All das ist kein Problem für den Deutschen Verband Tiernahrung, der die Futterhersteller repräsentiert. Statt sauberer Forschung würde es die Lobbygruppe ohnehin lieber sehen, wenn die Hersteller Zigmillionen Tonnen Schlempe aus den USA importieren könnten, was bislang noch verboten ist, weil darin oft gentechnisch verändertes Getreide enthalten ist.

Denn es geht um ein Milliardengeschäft: 2010 fuhren die rund 330 deutschen Mischfutterhersteller mit 6,7 Milliarden Euro ihren zweithöchsten Umsatz in ihrer Geschichte ein, rund acht Prozent mehr als im Vorjahr.

Eines eint sie alle: Sie sprechen nur ungern über die Zutaten ihrer fraglichen Menüs. Anfragen werden abgeblockt oder nur ausweichend beantwortet. Lediglich von Wissenschaftlern, die im Auftrag der Tierfutterhersteller arbeiten, gibt es weitere Hinweise. Etwa, dass immer öfter auch abgelaufene Lebensmittel unter das Futter gemischt werden. „Neulich haben wir Schweine mit Schokoküssen gefüttert“, sagt Hermann Lindermayer von der Bayerischen Landesanstalt für Landwirtschaft in Grub. Es sei schlicht zu teuer, abgelaufene Lebensmittel zu entsorgen.

Der Agrarwissenschaftler führt deshalb regelmäßig Versuche für die Industrie durch, um herauszufinden, was einigermaßen schadlos auf den Speiseplan von Kuh, Schwein und Lamm darf. Gummibären, Chips, Backabfälle und Pommes – all das lässt er die Tiere probieren. Wenn ein neues Fertiggericht oder ein neuer Joghurt auf den Markt kommt, tauchen diese früher oder später bei ihm auf. Selbst Scheibletten-Schmelzkäse nehmen die Säue, referiert Lindermayer. Es sei allerdings unwirtschaftlich, jede Käsescheibe aus der Folie zu ziehen.

Acrylamid in Eiern und Fleisch

Das System kennt kaum Grenzen: Einst füllten die Münchner Brauereien mit ihren Abwässern ein Fünftel des Kanalsystems. „Jetzt“, sagt Lindermayer, „werden die Reste in Futter umgearbeitet.“

Das Problem: Was dem Menschen schmeckt, bekommt dem Vieh noch lange nicht. Schokoküsse etwa sind Schweinen zu süß. Sie erbrechen und bekommen Durchfall. Außerdem lockt das Naschwerk Fliegen in den Stall. Nur zwei Prozent Schokoküsse dürften deshalb laut Lindermayer ins Schweinefutter gemixt werden.

Ein anderes Problem: Krebsverdächtiges Acrylamid, das in altem Brot, Pommes, Chips, Salzstangen und auch Kaffeesatz enthalten ist, landet über den Umweg in Eiern, Milch und Fleisch.

Lindermayer verteidigt die gängige Praxis: „Früher hatte jedes Restaurant drei Schweine im Hof, die die Küchenabfälle fraßen.“ Auch Großkantinen sammelten Essensreste, bevor das Geschirr in die Spülmaschine kam. Doch seit 2007 ist es in der EU verboten, die Reste vom Teller des Gastes in den Futtertrog zu werfen. Zu oft sind die Speisereste mit Keimen belastet – Schweinepest, Salmonellen sowie die Maul- und Klauenseuche waren die Folge.

Doch weil der essbare Müll billiges Futter ist, wird er heutzutage eben nicht an den Garküchen, sondern direkt an den Nahrungsmittel- und Biospritfabriken abgezweigt. Mikrobiell Verdächtiges wird erhitzt und steril gemacht. Teilweise werden die Reste über offener Glut getrocknet, um potenziell gefährliche Keime zu töten.

Doch da lauert schon die nächste Gefahr: Giftige Dioxine aus dem Rauch dringen in das Futter, von dort ins Fleisch und schließlich in den Menschen, warnt die Verbraucherschutzorganisation Foodwatch. Deshalb wächst mit der Abfallverfütterung oft auch die Dioxinbelastung.

In dieselbe Kerbe schlägt ein Bericht der EU-Kommission zur Sicherheit von Futterfetten. Dafür untersuchten die Experten Abfälle der Fettverarbeiter auf Dioxin, die verfüttert werden – darunter Seifen, Reste der Margarineerzeugung und altes Frittenfett.

Lückenlose Dioxinkontrollen

Das Ergebnis: In den Restfetten der Nahrungsölproduktion lag die Dioxinbelastung „in sieben von neun Fällen über dem zulässigen Grenzwert“, sagt Projektleiter Rafael Codony. Etliche dieser heute üblichen Nebenprodukte sollten deshalb nicht mehr verfüttert werden, um zu hohe Dioxinwerte in Eiern und Hühnerfleisch zu vermeiden.

Restfette aus der Margarineproduktion sind auch deshalb problematisch, weil sie reich an schädlichen Transfetten sind, die sich im Fleisch anreichern und später im menschlichen Körper Infarkte und Arterienverkalkung begünstigen. Angesichts solcher Ergebnisse fordern Forscher, die Abfallverfütterung strenger zu überwachen. Doch erst nach dem jüngsten Dioxinskandal setzt sich Landwirtschaftsministerin Ilse Aigner für eine lückenlose Dioxinmessung aller Futterfette ein.

Die Futterindustrie wehrt sich dagegen: Das Futter müsse preiswert sein, weil der Verbraucher billiges Fleisch verlange. Zudem, so die Lobbyisten, steigere das moderne Mischfutter – Nebenerzeugnisse hin oder her – die Leistung der Tiere.

Bauer Feldbinder bestätigt, dass seine Kühe mit dem gekauften Mischfutter, das er zusätzlich zu Gras und Mais füttert, mehr Milch geben, und kritisiert es trotzdem. Großbetriebe würden nur noch solches Futter verwenden. „Diese auf Höchstleistung getrimmten Kühe können sich nach drei Jahren kaum noch auf den Beinen halten“, sagt Feldbinder. Sie leiden unter Stoffwechselproblemen und Leberschäden. „Eine Kuh, die 8000 Liter Milch pro Jahr gibt“, sagt er, „ist mir deshalb lieber als eine mit 14 000 Litern.“

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