Kernkraft Das lukrative Geschäft mit dem Atomausstieg

Extrem gefährlich, aber lukrativ: Nach Deutschlands Atomausstieg werden die Reaktoren mit modernster Technik zurückgebaut. Das Geschäft lohnt sich: Deutsches Know-how ist weltweit gefragt.

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Die Beseitigung eines Kernkraftwerks dauert nach Betriebsende 10 bis 15 Jahre. Quelle: dpa, Montage

Die Männer schuften, eingepackt in dicke Schutzanzüge, mit Atemmasken samt künstlicher Luftversorgung, bedroht von lebensbedrohlicher Strahlung – doch nicht im All beim Außeneinsatz an der Internationalen Raumstation, sondern mitten im Emsland im Kernkraftwerk Lingen. Hinter dicht verschweißten Stahlwänden, bei 40 Grad Hitze, ohne jedes Tageslicht zerlegen sie bis zu acht Stunden pro Schicht die Reste des Reaktors. Wo die Radioaktivität zu hoch ist, übernehmen Roboter die schwierige Aufgabe, manchmal sogar unter Wasser.

Lingen ist einer von vier Atommeilern, die hierzulande derzeit demontiert werden – neben denen im ostwestfälischen Würgassen, im badischen Obrigheim und im vorpommerschen Lubmin. Beim hessischen Kraftwerk Biblis A startet der Rückbau dieser Tage, sieben weitere folgen in den kommenden Jahren. Priesen die Betreiber die Kernspaltung einst als Lösung aller Energieprobleme, will Deutschland nun sein atomares Erbe loswerden – möglichst spurlos. Nach der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima hat die Bundesregierung 2011 den schrittweisen Atomausstieg bis 2022 verordnet. Von den kommerziellen Kernreaktoren sind laut Branchenvereinigung Deutsches Atomforum bereits 25 abgeschaltet, acht Blöcke liefern noch Strom.

Materialmengen

Was die Politik mit schneller Hand beschlossen hat, ist eine enorme logistische und technische Herausforderung. Denn auch Jahre nach dem Abschalten eines Reaktors stecken Anlagen und Gebäudeteile voller Radioaktivität, von der nichts nach außen gelangen darf. Gefragt sind Fachleute, die die Maschinen und Baumaterialien in der Strahlenhölle zerlegen, säubern oder – wenn das nicht geht – so verpacken, dass sich die Reste gefahrlos ins Endlager transportieren lassen.

Ein Geschäft für Spezialisten, von denen es in Deutschland mittlerweile eine Reihe gibt. Schließlich locken Großaufträge. Fachleute taxieren die Kosten für den Rückbau eines einzigen AKWs auf 700 Millionen bis eine Milliarde Euro. Allein in Deutschland haben die Betreiber der Kraftwerke insgesamt 38,3 Milliarden Euro zurückgestellt, um Abriss und Endlagerung zu finanzieren. Und der Rückbau erfordert neben viel Geld auch Spezialwissen: „Im internationalen Vergleich sind wir mit unseren Innovationen zweifellos an der Spitze, auch was Forschung und Entwicklung anbelangt“, sagt Sascha Gentes vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Inhaber des einzigen deutschen Lehrstuhls für den Rückbau kerntechnischer Bauwerke. Weil aber quasi jede Anlage ein Unikat ist, „müssen bei jedem Projekt die Rückbaumethoden angepasst und optimiert werden“, erläutert Gentes, der reichlich Erfahrung beim Abbau der atomaren Forschungsanlagen der eigenen Hochschule sammeln konnte.



Umso wichtiger sind effiziente Technologien, damit die Kosten einigermaßen im Rahmen bleiben.

Beton wie Butter schneiden

Der Rückbau erfolgt normalerweise in fünf überlappenden Phasen, die bis zu 15 Jahre dauern (siehe Grafik links). Endet der normale Betrieb, entnimmt der Betreiber dem Reaktorkern die Brennelemente. In ihnen tobte das atomare Feuer, das die Energie für Strom- und Wärmeproduktion lieferte. In einem riesigen Wasserbecken werden sie zwischengelagert, bis sie schließlich mit Castorbehältern abtransportiert werden. Gleichzeitig entwickelt der Betreiber einen Rückbauplan für die gesamte Anlage, den die Aufsichtsbehörden genehmigen müssen.

3000 Tonnen radioaktiver Abfall

Während dieser Nachbetriebsphase, die bis zu fünf Jahre dauert, kann er bereits Gebäude und Anlagen außerhalb des Reaktors abbauen, die nie mit Strahlung in Kontakt geraten sind, etwa die Turbinen für die Stromerzeugung. Dabei anfallende Betonreste werden zerkleinert und dienen etwa als Schotter im Straßenbau, Metalle werden eingeschmolzen und wiederverwandt. Im Fall des Kraftwerks Stade nahe Hamburg, dessen Abriss bereits weitgehend abgeschlossen ist, waren das rund drei Fünftel der insgesamt fast 330.000 Tonnen Rückbaumasse. All das ist technisch wenig anspruchsvoll.

Herausfordernder sind die nächsten vier Phasen des Rückbaus, in denen es um die nuklearen Bereiche geht. In Stade dauerte deren Demontage rund zehn Jahre. Der Betreiber, die E.On Kernkraft, erwartet, dass am Ende 3000 Tonnen radioaktiver Abfall übrig bleiben, der extra gelagert werden muss – weniger als ein Prozent der gesamten Anlage.

Noch aktive und abgeschaltete Kernkraftwerke in Deutschland.

Damit es nicht viel mehr Strahlenmüll wurde, mussten die Arbeiter viele Tausende Tonnen an Rohren, Baumaterial und Maschinen so dekontaminieren, dass ihnen keine Radioaktivität mehr anhaftete. Während der gesamten Zeit musste das Reaktorgebäude überwacht und klimatisiert, die Luft gefiltert werden, damit keinerlei Strahlung die massive Schale aus Beton und Stahl verlässt.

In der zweiten und dritten Phase schaffen die Arbeiter im Inneren des kuppelförmigen Gebäudes Platz, in dem sie etwa große Wasserbehälter, die zur Kühlung dienten, demontieren oder die Führung der Brennstäbe. Mit einem mehrstufigen Reinigungsverfahren beseitigen sie anhaftende strahlende Partikel. Etwa mit Hochdruckreinigern, die radioaktive Stoffe mit einem enormen Druck von 3000 bar von der Oberfläche spülen, 30-mal mehr, als Geräte aus dem Baumarkt für die heimische Terrasse leisten. Oder sie schießen Stahlkies, eine Art Granulat aus Metall, mit fünf Bar auf die Oberfläche. Das Trommelfeuer fegt die obersten Schichten kontaminierter Bauteile restlos weg. Oder sie tauchen Gegenstände in ein Säurebad, die aggressive Chemikalie entfernt die oberste Schicht. In Würgassen und Stade kratzten patentierte, ferngesteuerte Betonfräsen des Baukonzerns Hochtief verstrahltes Oberflächenmaterial wie Butter ab.

Erst wenn ein Bauteil nach wiederholten Messungen nicht mehr strahlt, darf es entsorgt werden. Sonst muss es erneut den Dekontaminationskreislauf durchlaufen. Eine Sisyphusarbeit, die noch immer personalintensiv ist und Jahre dauert.

Erst in Deutschland, dann in der Welt

Je weiter sich die Arbeiter in der vierten Phase zum Reaktordruckbehälter, dem Herzstück eines Kernkraftwerks, vorkämpfen, desto mehr nimmt die Radioaktivität zu. Hier sind die Bauteile nicht mehr nur verschmutzt, sondern strahlen selbst. Irgendwann wird es für Menschen zu gefährlich. Deshalb müssen Maschinen die Komponenten zerlegen, die dann ins Endlager wandern. Ferngesteuerte Greifer halten die Rohre, Pumpen und Armaturen, mit Hochdruck-Wasserstrahlen oder mit Plasma, einem extrem heißem Gas, werden sie zerlegt.

Die Atomklagen der Energiekonzerne

Diese Geräte liefert etwa die hessische Nukem Technologies, eine Tochter der russischen Rosatom-Holding. Die Demontagen im Herz der Anlage laufen unter Wasser ab, das die Strahlung dämpft – was die Arbeiten aber noch schwieriger macht.

Die zerkleinerten schwach- und mittelradioaktiven Schrotte lassen sich dann vor Ort in mobilen Öfen zu kompakten Blöcken einschmelzen, wie sie die hessische ALD Vacuum Technologies baut. Der Vorteil: weniger Atommülltransporte.

Sind die am stärksten strahlenden Komponenten demontiert, beginnt die fünfte und letzte Phase. Arbeiter entfernen die letzten Bauteile, die bis zuletzt gebraucht wurden, etwa Kräne oder Lüftungsanlagen. Dann können sie die Gebäude abreißen.

Sogar der Staat profitiert

Die Branche hofft, ihr wertvolles Know-how auch exportieren zu können. Denn auf der ganzen Welt kommen Atommeiler in die Jahre und müssen außer Betrieb genommen werden oder entscheiden sich Nationen ähnlich wie Deutschland, auf die Technik zu verzichten. Allein in Europa geht die Europäische Kommission davon aus, dass bis 2025 etwa ein Drittel der 145 derzeit aktiven Kernkraftwerke stillgelegt sein wird. „Diese Marktchancen möchten wir nutzen“, verkündet Henry Cordes, Geschäftsführer der Energiewerke Nord (EWN) aus dem vorpommerschen Rubenow, stellvertretend für viele der deutschen Anbieter der Branche. Die EWN sind selbst an vielen deutschen Projekten beteiligt und besonders in Osteuropa bereits gut vernetzt.

Das Unternehmen ist Rechtsnachfolger des früheren Kernkraftwerk-Kombinats Bruno Leuschner in der DDR. Ursprünglich sollte es nur die fünf Reaktorblöcke russischer Bauart in Lubmin zurückbauen, doch mittlerweile vermarkten die EWN ihre Erfahrung weltweit.

So unterstützten die ostdeutschen Experten die Sicherung der Reaktoren im ukrainischen Tschernobyl, sie halfen bei der Abrüstung russischer Atom-U-Boote und bekamen im litauischen Ignalina den Auftrag zur Planung der Stilllegung des dortigen Atomkraftwerks ebenso wie für das im bulgarischen Kosloduj. Aber natürlich „wollen international viele mitspielen und mitverdienen“, weiß Geschäftsführer Cordes. So etwa der französische Nuklearkonzern Areva oder die amerikanische Westinghouse Electric, eine Toshiba-Tochter.

Für sie ist das womöglich ein Geschäft für die Ewigkeit. Denn auch nach Phase fünf sind die Arbeiten nicht zu Ende. In Stade etwa werden die Abfälle bis zu 40 Jahre aufbewahrt, bis sie ins Endlager wandern können. Die Suche nach dessen Standort soll dieses Jahr beginnen, 2045 soll es in Betrieb gehen. Um dann für Tausende Jahre das radioaktive Erbe – so sicher wie möglich – zu verwahren.

Neben dem technisch Machbaren ist vor allem fraglich, ob die großen Atomkraftwerksbetreiber finanziell durchhalten. Ihre Geschäfte bröckeln derzeit weg, das Ende der Leistungsfähigkeit ist nahe (siehe WirtschaftsWoche 49/2015). Um dennoch die Finanzierung von Rückbau und Endlagerung zu sichern, hat die Bundesregierung eine eigene Atom-Kommission eingesetzt, die bis Ende Februar eine Lösung finden soll. Ironie des Schicksals: Wie auch immer die Lösung aussehen wird – der Bund, auf dessen finanzielle Hilfe die Konzerne spekulieren, profitiert immerhin vom Abbau der Kraftwerke: Die EWN gehört dem Bundesfinanzministerium.

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