Gefahr für Wohlstand Jungs im Bildungssystem auf dem Abstellgleis

Schlechte Noten, ungerechte Lehrer: Warum die Benachteiligung der Jungen in den Schulen unseren Wohlstand gefährdet – und wie die Jungen und das Bildungssystem zu neuer Stärke finden können.

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Jungen gelten unter Bildungsforschern als zunehmend benachteiligt vom Schulsystem, dpa

Seit Dirk beim Tollen auf dem Schulhof an einer Grundschule in Lohmar bei Köln mit einem Mitschüler zusammengeprallt ist und der sich dabei ein paar Schürfwunden zugezogen hat, ist er bei seiner Lehrerin unten durch. Fällt dem aufgeweckten Siebenjährigen, der die zweite Klasse besucht, mal das Mäppchen runter oder platzt er mit einer Frage einfach dazwischen, muss er in der Ecke stehen, Strafarbeiten schreiben oder wird zum Rektor geschickt. Keine Unterrichtsstunde vergeht, an der die Lehrerin nicht an dem Jungen herumkrittelt und ihn vor der Klasse bloßstellt. Obwohl Dirk, so die Eltern, sich anstrengt, hagelt es schlechte Noten für ihn. Die Eltern haben Angst, sich gegen die alltägliche Schikane ihres Sohnes zu wehren. Sie fürchten, dass die Schule dann ihre Drohung, Dirk auf eine Sonderschule für schwer erziehbare Kinder zu schicken, wahr macht. Solche Beschwerden verzweifelter Väter und Mütter häufen sich, berichtet Regine Schwarzhoff, Vorsitzende des Elternvereins Nordrhein-Westfalen. Fast immer sind Jungen betroffen, und fast immer sind Lehrerinnen in den Konflikt verstrickt. Schwarzhoff weiß von Schulen, wo Eltern regelrecht darum betteln, dass ihre Söhne von einem der wenigen Lehrer unterrichtet werden. „Das hat es früher in dieser Dimension nicht gegeben.“ Werden Jungen benachteiligt? Für den Bozener Entwicklungspsychologen Wassilios Fthenakis, einen genauen Kenner des deutschen Bildungssystems, ist das keine Frage mehr. „Das ist empirisch nachgewiesen.“ Aktuelle Zahlen untermauern die Krise der Jungs. Sie brechen weitaus häufiger die Schule ab, bleiben öfter sitzen und schaffen seltener das Abitur. Im Durchschnitt sind sie eine ganze Schulnote schlechter als ihre Mitschülerinnen. Der Bielefelder Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann, einen der bekanntesten Jugendforscher Deutschlands, ist vor allem über die Dynamik besorgt, mit der das einstige starke Geschlecht an der Schule zurückfällt. „Der Anteil der Mädchen an den Abiturienten wächst im Moment bei jedem Jahrgang um einen Prozentpunkt.“ Im vergangenen Schuljahr erlangten 29,3 Prozent der Mädchen die allgemeine Hochschulreife gegenüber 25,9 Prozent 1992. Unter den Jungen sank der Anteil im gleichen Zeitraum von 22,2 auf 21,7 Prozent.

Beim Berufseinstieg setzt sich die Misere fort. Jungen finden seltener eine Ausbildungsstelle und fallen bei Prüfungen öfter durch. Die logische Konsequenz: Die Arbeitslosenquote ist unter den männlichen 15- bis 25-Jährigen mit 13 Prozent zwei Prozentpunkte höher als bei gleichaltrigen Frauen. Wird der Entwicklung nicht schnell gegengesteuert, steht mehr auf dem Spiel als die Zukunft vieler junger Männer: Das schrumpfende Reservoir an schlauen Jungs kommt auch die Volkswirtschaft teuer zu stehen, belastet Sozial- und Steuerkassen und gefährdet damit unseren Wohlstand. „Wir können uns die massenhafte Vergeudung menschlicher Talente nicht länger leisten“, warnt der Bildungsökonom Ludger Wößmann, Professor an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität und Spitzenforscher am renommierten ifo Institut für Wirtschaftsforschung.

Wößmann hat ausgerechnet, dass die schlechten Schulleistungen, zu denen Jungen überproportional beitragen, Deutschland jährlich bis zu einen halben Prozentpunkt Wirtschaftswachstum kosten. Bezogen auf den Anstieg des Bruttoinlandsprodukts in den vergangenen zehn Jahren von durchschnittlich 1,3 Prozentpunkten, ließe sich das volkswirtschaftliche Wachstum um 40 Prozent erhöhen, wenn Deutschlands Schulen internationales Spitzenniveau erreichen würden. „Dann hätten wir deutlich weniger Arbeitslose“, sagt Wößmann. Schon jetzt beklagen Unternehmen lautstark einen Mangel an Fachkräften. „Der Markt ist leer gefegt“, sagt Manfred Wittenstein, der Chef des gleichnamigen Herstellers von Antriebstechnik aus Igersheim bei Würzburg und Präsident des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA). Nach einer aktuellen Umfrage des Hamburger Marktforschungsinstituts Psephos finden 59 Prozent aller Unternehmen derzeit keine geeigneten Bewerber. Die Folge: Weil Arbeit und Aufträge liegen bleiben, büßen zwölf Prozent dieser Unternehmen bis zu fünf Prozent Jahresumsatz ein, weitere zwölf Prozent bis zu zehn und jedes 20. Unternehmen sogar mehr als zehn Prozent. Besonders eklatant ist der Mangel an Ingenieuren, in den technisch-gewerblichen Berufen und im Handwerk – also überall dort, wo Männer bis heute klar dominieren. Alle Initiativen und Aktionen, Frauen verstärkt für solche Positionen zu gewinnen, liefen bislang ins Leere. Mädchen haben nach wie vor keine Lust, Maurer, Mechatroniker, Feinmechaniker oder Bauingenieur zu werden – Jobs, die zum Teil mit schwerer körperlicher Arbeit verbunden sind. Die Zahl der jungen Frauen, die nach dem Abitur ein Ingenieurstudium aufnehmen, ist sogar wieder rückläufig. Seit 2001 ist der Anteil der Frauen an den berufstätigen Ingenieuren leicht von 5,9 auf 5,8 Prozent gefallen, sehr zur Enttäuschung von Wittenstein. „Wir treten da auf der Stelle.“ Mindestens 9000 Ingenieure und Tausende Facharbeiter fehlen allein dem boomenden deutschen Maschinenbau. Bundesweit blieben nach einer Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) im vergangenen Jahr mangels geeigneter Bewerber 48.000 Ingenieurstellen unbesetzt. Die Technikverweigerung der Jugend erweist sich zunehmend als Wachstums- und Jobbremse. Der Maschinenbau könnte in diesem Jahr rund 10.000 Stellen zusätzlich schaffen, wenn es mehr Fachkräfte gebe. Der deutschen Volkswirtschaft, so hat das IW ausgerechnet, entgehen auf diese Weise jährlich mindestens 3,5 Milliarden Euro an Wertschöpfung. ThyssenKrupp-Chef Ekkehard Schulz: „Nur wenn sich genügend Jugendliche für solche Berufe entscheiden, hat Deutschland die Chance, Spitzenprodukte hervorzubringen, die unseren Wohlstand sichern.“

Der aktuelle Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands bestätigt Schulz’ Sorge. Weil Fachkräfte fehlen, schreibt das Karlsruher Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI, sei das Ziel der Bundesregierung, dass Wirtschaft und Staat von 2010 an jährlich drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Forschung und Entwicklung investieren, „nicht mehr erreichbar“. Und es kommt noch schlimmer: Der dringend benötigte männliche Nachwuchs macht sich nicht nur rar. Es sinkt auch die Qualität der Bewerber. Einer Erhebung des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) zufolge verfügt ein Viertel aller Schulabgänger nicht über ausreichende Kenntnisse im Rechnen und Schreiben. „Vor allem in technischen Berufen fürchten Unternehmen schon bald nicht mehr in ausreichender Zahl geeignete Auszubildende zu finden“, warnt DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben. Jedes achte Unternehmen habe bereits im vergangenen Jahr nicht mehr alle Ausbildungsplätze besetzen können. Die Klagen über die sinkende Qualifikation der Lehrstellenbewerber häufen sich. Nach den Erfahrungen des Leverkusener Kältetechnik-Unternehmers Michael Blank können viele Bewerber nicht einmal einen simplen Dreisatz lösen. „Die Schulabgänger werden immer schwächer.“ Vor allem das Reservoir guter männlicher Kandidaten schrumpfe, kritisiert Jürgen Peschel, Ausbildungsleiter beim Stahlkonzern Arcelor Mittal in Eisenhüttenstadt. Immer häufiger bleibt Unternehmen nichts anderes übrig, als die Schulversager nachzuqualifizieren. IW-Experte Helmut Klein schätzt, dass die Bundesregierung, die Bundesländer, die Bundesagentur für Arbeit und die Ausbildungsbetriebe dafür jährlich rund 3,4 Milliarden Euro aufwenden müssen. „Da lauern gewaltige Effizienz-Potenziale.“ Wie sehr Deutschland bei der Aktivierung und Nutzung des Wissens und der beruflichen Kenntnisse seiner Bürger im internationalen Vergleich zurückgefallen ist, belegt eine aktuelle IW-Studie. Das Land großer Erfinder wie Werner von Siemens und Gottlieb Daimler und aktueller Nobelpreisträger wie Peter Grünberg und Gerhard Ertl (WirtschaftsWoche 43/2007) belegt unter 26 untersuchten Industriestaaten Platz 15 – weit abgehängt von Japan, Australien, der Schweiz, Großbritannien und Schweden. Die unzureichende Förderung des Nachwuchses sei ein Grund für das schlechte Abschneiden, erläutert IW-Expertin Christina Anger. Als rohstoffarmes Land, das vor allem von Technologieexporten lebt, ist Deutschland aber auf hoch qualifizierte Menschen angewiesen. Dies umso mehr, als das Angebot an Arbeitskräften demografisch bedingt abnimmt. Anger: „Um Wohlstandseinbußen zu vermeiden, müssen die zukünftigen Beschäftigten produktiver sein und benötigen deshalb eine höhere Qualifikation.“

Der gerade veröffentlichte Bildungsbericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Paris bestätigt das düstere Bild. Deutschland ist danach nicht in der Lage, alle aus Altersgründen frei werdenden Arbeitsplätze für Ingenieure und Pädagogen mit eigenem akademischem Nachwuchs zu besetzen, geschweige denn auf den Trend zu Höherqualifizierung zu reagieren. Im weltweiten Vergleich rutscht Deutschland von Rang 10 auf Rang 22 ab. OECD-Generalsekretär Angel Gurría nennt die Bilanz „besorgniserregend“. Verlierer des Systems sind die Buben. Mädchen haben sich deutlich besser mit dem Bildungsnotstand arrangiert und gelernt, sich allen Widrigkeiten zum Trotz an den Schulen zu behaupten. Entwicklungspsychologe Fthenakis wundert sich, warum niemand ernsthaft dagegen aufbegehrt und lautstark protestiert. Unter den Eltern von Söhnen rumort es jedenfalls bereits gewaltig. Elternvertretungen hören täglich Klagen über schlechtere Noten für Jungs bei gleichen Leistungen, über Lehrerlob nur für Mädchen oder andauernde Schikanen durch weibliches Lehrpersonal, „nur weil es unserem Lukas schwerfällt, die ganze Stunde still auf seinem Stuhl zu sitzen, und er schon einmal zwischendrin aufspringt“, schimpft die Mutter eines Drittklässlers. Die NRW-Elternvereinsvorsitzende Schwarzhoff fordert baldige Gegenmaßnahmen. „Das Verhalten von Mädchen ist an den Schulen zur Norm gemacht worden. Jungen werden zu Außenseitern gestempelt und in unserem Bildungssystem klar benachteiligt.“ Die Beschwerdewelle hat die Politik aufgeschreckt. Im nordrhein-westfälischen Landtag gab es jetzt erstmals eine große Debatte über Jungendiskriminierung an den Schulen. „Wenn zwei Drittel aller Schulabbrecher männlich sind, besteht dringender Handlungsbedarf“, forderte der schulpolitische Sprecher der CDU-Landtagsfraktion in NRW, Bernhard Recker. „Wir müssen einer Entwicklung gegensteuern, die Jungen tendenziell immer mehr zu Bildungsverlierern macht.“ Die Kultusministerin des Landes, Barbara Sommer (CDU), hat bereits reagiert. Sie will den Anteil männlicher Lehrkräfte an den Grundschulen erhöhen, um die Entwicklung der Jungen fördern zu können. „Wir haben zu lange gedacht, dass die Jungen schlechter als Mädchen sind. Sie sind aber nicht schlechter, sondern anders“, mahnte Sommer kürzlich auf einem Lehrerkongress in Köln. Während Mädchen still in der Bank säßen und den Ausführungen der Lehrerin lauschten, würden Jungen schon einmal zappelig, wenn sie durch den Unterricht unterfordert würden. Sommer: „Da müssen wir was ändern.“

Auch Schleswig-Holstein hat das Problem erkannt und reagiert nun. Landesbildungsministerin Ute Erdsiek-Rave (SPD) hat im neuen Schulgesetz die Schaffung einer geschlechtergerechten Schule zu einem Schwerpunkt erklärt. „Wir dürfen die Jungs nicht zurücklassen.“ Um das zu erreichen, hat sie unter anderem die Entwicklung spezieller Unterrichtsmaterialien für Jungen in Auftrag gegeben. Langsam tut sich was. Im Netzwerk „Neue Wege für Jungs“, entwickeln Erziehungswissenschaftler, Psychologen und Lehrer mit Unterstützung des Bundesfamilienministeriums Konzepte zur Jungenförderung. „Das Problem, dass Jungen vor allem in der Schule besondere Hilfe brauchen, ist erkannt“, sagt Projektkoordinator Miguel Diaz. Münchner Schulen berufen Lehrer zu Jungenbeauftragten, bringen den Jungen in Anti-Gewalt-Kursen bei, ihre Aggressionen zu zügeln, und erproben in der siebten und achten Klasse in Physik und Fremdsprachen nach Geschlechtern getrennten Unterricht. Die Zeitschrift „Emma“, Speerspitze der Frauenemanzipation, forderte vor 20 Jahren: „Wenn wir wollen, dass es unsere Töchter einmal leichter haben, müssen wir es unseren Söhnen schwerer machen.“ Für Jugendforscher Hurrelmann ist der Appell auf ungute Weise Wirklichkeit geworden. „Lange hat sich alles nur um die Frage gedreht, warum Mädchen im Schulsystem so schlecht abschnitten. Jetzt haben wir spiegelbildlich die gleiche Situation bei den Jungen.“ Der Wissenschaftler plädiert dafür, Jungen stärker zu fördern. „Wir haben geglaubt, die setzten sich alleine durch, sie waren ja das starke Geschlecht. Das war ein Irrtum. Stattdessen werden sie heute in der Schule von cleveren, flexiblen Mädchen geradezu deklassiert.“ Das Ergebnis: Bei der Lesekompetenz hinken die 15-jährigen Buben ihren gleichaltrigen Mitschülerinnen um ein ganzes Schuljahr hinterher. Das ergab die internationale Schulleistungsvergleichsstudie Pisa. Auch beim Lösen von Problemen sind die Mädchen demnach besser, in Naturwissenschaften haben sie fast gleichgezogen. Nur in Mathematik behaupten die Schüler noch einen knappen Vorsprung. Dass die Misere überproportional Jungen aus sozial schwierigen Verhältnissen trifft, macht die Sache nicht besser. Besonders in den neuen Bundesländern haben die Mädchen einen enormen Bildungsvorsprung erzielt. Nirgendwo in Deutschland ist das Übergewicht der Jungen unter den Hauptschülern größer als dort » (siehe Grafik), während sie unter den Abiturienten deutlich unterrepräsentiert sind. Eine aktuelle Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung mit dem Titel „Not am Mann“ zeigt, welche Spirale die Entwicklung in Gang setzt, an deren Ende der weitere Abstieg dieser Regionen steht. Und was sich zwischen Schwerin und Plauen anbahnt, könnte alsbald auf viele ländliche Regionen im Westen überschwappen. Steffen Kröhnert, Leiter der Studie, ist besorgt: „Da sammelt sich jede Menge Zündstoff an.“

Ihre guten Schulabschlüsse und fehlende Arbeitsplätze veranlassen junge Frauen, in Scharen den Osten zu verlassen und ihre Chance woanders zu suchen. Zurück bleibt ein Heer schlecht qualifizierter männlicher Altersgenossen, die keinen Job finden und schwerlich neue Unternehmen zur Ansiedlung anlocken. Der akute Frauenmangel wird die Geburtenrate absehbar weiter sinken lassen – auch das verdüstert die Wirtschaftslage. Weiteres Problem: Die Abwanderung der gut qualifizierten Jugend senkt das Bildungsniveau. Im Osten, so die Studie, ist der Bildungsstand der älteren Generation mittlerweile deutlich höher als der der jüngeren. „Ein schlechter Arbeitsmarkt scheint junge Frauen geradezu anzuspornen, mehr in der Schule zu leisten und so ihre Jobchancen zu verbessern“, analysiert Kröhnert. „Jungen hingegen reagieren nicht mit messbaren Bildungsanstrengungen.“ Zu viele der Jungen unterliegen laut Studie dem Irrglauben, sie würden schon eine Arbeit in einem traditionellen Männerberuf in der Fabrik oder auf dem Bau finden. Oft bestärken die Eltern sie noch in dieser Sichtweise. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Arbeitsmarktforscher sagen voraus, dass im Jahr 2020 nur noch zehn Prozent der Beschäftigten in der Produktion tätig sein werden. Hält der gegenwärtige Trend an, haben dann aber 35 Prozent der Schüler eines Jahrgangs nicht mehr als den Hauptschulabschluss in der Tasche. Für die boomenden anspruchsvollen Wissens- und Dienstleistungsjobs sind sie wenig geeignet. Erst recht sind Menschen ganz ohne Schul- und Berufsabschluss von Arbeitslosigkeit bedroht. Für diese Gruppe hat sich die Arbeitslosenquote laut OECD-Bildungsbericht zwischen 1991 und 2005 von 7,4 auf 20,2 Prozent fast verdreifacht. „Das Resultat sind jede Menge Hartz-IV-Empfänger“, befürchtet die DIHK-Bildungsexpertin Berit Heintz. Jungs auf der Verliererstraße: Wer brachte sie dahin? Für den Hamburger Gesamtschullehrer und Universitätsdozenten Frank Beuster, Autor des Buchs „Die Jungenkatastrophe“, überfordert das deutsche Bildungssystem das vermeintlich stärkere Geschlecht schlicht. Nach seinen Beobachtungen gehen die oft ausschließlich aus Lehrerinnen bestehenden Grundschulen besonders auf das diszipliniertere Wesen der Mädchen ein und passen den Unterricht daran an. Da Jungen in den ersten Schuljahren noch viel verspielter und unkonzentrierter sind, so Beusters These, werden sie von den Mädchen im Unterricht nach und nach abgehängt. „Die Schulen schaffen es nicht, die Jungen für das Lernen zu gewinnen. Ihre permanenten Misserfolge und Frustrationen kompensieren sie mit Stören und Clownereien, und dafür werden sie noch einmal bestraft.“

Sind die Jungen also ein Opfer der Verweiblichung der Schule, die Mädchenverhalten zum Maßstab macht? Eine Untersuchung der Erziehungswissenschaftlerin Eva Schumacher von der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd stützt Beusters Kritik. Mehr als 90 Prozent der befragten Lehrkräfte gaben an, dass gute Umgangsformen und ein positives Sozialverhalten, die sie ganz überwiegend bei den Schülerinnen sehen, nicht bloß in die Kopf-, sondern auch positiv in die Fachnoten einfließen. So kommt zustande, dass Jungen bei gleicher Leistung schlechtere Noten erhalten. Mädchen mit ihrer eher vermittelnden und auf Kompromisse ausgerichteten Art fällt es leichter, sich dem Schulsystem anzupassen, darin sind sich die Experten einig. Auch bringen sie mehr Disziplin und Ehrgeiz mit, sagt Susanne Thurn, Leiterin der Laborschule an der Universität Bielefeld, Deutschlands einziger Versuchsschule. „Mädchen haben Freude an der Leistung und sind stolz auf gute Noten.“ Die Haltung der Jungen ist ambivalenter, stimmt der Hamburger Erziehungswissenschaftler Jürgen Budde zu. „Einser-Schüler gelten unter ihren Kumpels schnell als Streber. In dem Zwiespalt zwischen der Anerkennung als guter Schüler oder ein richtiger Junge zu sein, entscheiden sich viele für die Männlichkeit und gegen die Schule.“ Schwarzhoff vom NRW-Elternverein wirft den Pädagogen auch einen „Tunnel- » blick nur auf die Mädchen“ vor. Sie würden bei jeder Gelegenheit gelobt, Jungen dagegen sofort getadelt, wenn sie nur mal ein bisschen auf ihrem Stuhl rumrutschten. „Sie gewinnen dadurch den Eindruck, dass Lernen nur etwas für Mädchen ist.“ Budde weiß aus Interviews mit Lehrern und aus dem Unterrichtsalltag, dass sich bei vielen Pädagogen, weiblichen wie männlichen, Stereotypen festgesetzt haben, die sie mit zweierlei Maß messen lassen. Budde: „Das geschieht unbewusst.“ Klassen, in denen Jungen in der Mehrzahl sind, gelten als anstrengend, wenig engagiert und leistungsschwach. Die Mädchen erleben die Lehrer(innen) als „still und zurückhaltend“ und führen das aufs dominante Auftreten der Jungen zurück. Damit wächst laut Budde der Drang unter den Lehrkräften, „den Jungen mal zu zeigen, wer der Chef ist“. Umgekehrt gelten mädchendominierte Klassen unter den Pädagogen als ausgesprochen leistungsstark, aber auch als laut und faul. Die Schuld schieben sie allerdings den Jungen zu. Ungleich werten sie auch verbale Attacken während des Unterrichts aufs andere Geschlecht. Mädchen heimsen dafür meist ein Lob ein, weil sie gelernt hätten, sich zu wehren. „Jungen dagegen“, so Budde, „werden in die Schranken gewiesen.“

Ein anderer Kritikpunkt betrifft die Auswahl der Unterrichtsinhalte. Jungenthemen wie Ritter, Burgen oder auch einmal ein Zeitungsartikel über Fußball kämen so gut wie nicht vor, bemängelt Ingrid Joos-Beßler, Rektorin an einer großen Grundschule im Landkreis Fulda. Der Medienexperte und Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN), Christian Pfeiffer, sieht zudem einen Zusammenhang zwischen Medienkonsum und Schulleistung. Nach der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung Iglu schauen 11,5 Prozent der Jungen, aber nur 3,5 Prozent der Mädchen täglich mehr als fünf Stunden fern, die dafür deutlich häufiger lesen. Beide Geschlechter verbringen zwar ähnlich viel Zeit vor dem Computer. Aber während Mädchen sich gegenseitig schreiben und den Rechner und das Internet als Lernquelle nutzen, begeistern sich Jungen vor allem für Videospiele. Das hat Folgen. Nach einer KFN-Befragung von mehr als 23.000 Schülern kommt Pfeiffer zu dem Schluss: „Je brutaler die Computerspiele sind und je häufiger sie gespielt werden, desto schlechter sind die Noten." Was aber tun? Kann nur eine spezielle Förderung die Jungen vorm Absturz bewahren? Oder sollten Fächer wie Mathematik, Deutsch und Englisch in den Klassen sieben bis neun gar wieder nach Geschlechtern getrennt unterrichtet werden, wie das der Elternverein NRW vorschlägt? „In dieser Altersphase driftet die Entwicklung von Jungen und Mädchen am weitesten auseinander. Getrenntes Lernen erleichtert es beiden Geschlechtern, ihre Stärken auszubilden und zu sich selbst zu finden“, begründet Schwarzhoff ihre Forderung nach einer zumindest zeitweisen Aufhebung der Koedukation. Die meisten Experten befürworten andere Lösungen. Sie warnen wie der Hamburger Pädagoge Budde davor, die Geschlechterdifferenzen zu dramatisieren. „Das verfestigt nur alte Rollenklischees.“ Vielmehr komme es darauf an, dass sich die Lehrer die Unterschiede bewusst machten und schon in der Ausbildung lernten, mit differenzierten Unterrichtsformen darauf einzugehen. „Im individuellen Ernstnehmen liegt wahrscheinlich die größte Perspektive für Jungenförderung.“ Unterstützung für diese Position findet er bei Andreas Schleicher, dem Erfinder des Pisa-Tests bei der OECD. „Die Herausforderung ist, Jungen und Mädchen individuell zu fördern, zu erkennen, dass gewöhnliche Schüler außergewöhnliche Fähigkeiten haben“. Das Problem ist nur: In der Ausbildung der Lehrer an den Universitäten und in der praktischen Schulpolitik findet sich von diesen Erkenntnissen bislang kaum etwas wieder. So ist zu befürchten, dass die Jungen und das deutsche Bildungssystem weiter ins Hintertreffen geraten.

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