Zwischen den Jahren Platz zum Rückzug

Die Zeit zwischen den Jahren – das klingt nach Beschaulichkeit. Viele Büros sind geschlossen, die Freunde im Urlaub, das Telefon schweigt. Endlich Ruhe! Führungskräfte-Coach Veronika Langguth über den Erholungswert der Stille.

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Stille ist heute zu einem Stück Lebensqualität geworden: Es gibt nur noch wenige Plätze, an denen absolute Lautlosigkeit herrscht. Polizei- und Feuerwehrsirenen müssen deshalb heute etwa doppelt so laut schallen wie vor 40 Jahren, um sich durchzusetzen. Denn wir leiden zunehmend unter Geräuschverschmutzung, nicht nur auf der Straße. Hoher Lärmpegel in vielen Großraumbüros und öffentlichen Einrichtungen, hallende oder scheppernde Akustik in Kantinen und Foyers, Radiogedudel in Frühstücksräumen von Hotels oder während der Taxifahrt, in Einkaufszentren oder Restaurants. Dazu die unfreiwillige Teilnahme an der Musik aus überlaut eingestellten MP3-Playern des Mitreisenden, nervendes Handyklingeln – von Straßen-, Flug- und Baustellenlärm ganz zu schweigen. Häufig nehmen wir den Geräuschteppich schon gar nicht mehr bewusst wahr oder als gegeben hin. Wir ertragen mehr oder weniger zwangsläufig die ungefilterte Dauerbeschallung bis hin zum Krach. Das stresst auf Dauer. Die Folgen sind Überreizung, Konzentrationsschwierigkeiten, Erschöpfungszustände, Schlafstörungen – bis hin zu aufdringlichen Ohrgeräuschen (Tinnitus) und psychosomatischen Erkrankungen. Medizinische Untersuchungen zeigen: Anwohner, die längere Zeit dem Verkehrslärm an Straßenkreuzungen mit durchschnittlich 60 bis 65 Dezibel ausgesetzt sind, leiden häufiger als der Bevölkerungsdurchschnitt an Herz- und Kreislaufkrankheiten. Unser Ohr kann vieles ausgleichen. Bei sehr lauten Geräuschen ziehen sich die Muskeln des äußeren Ohres zusammen, und die Knochen im Mittelohr verändern ihre Achse, um die Klangenergie zu reduzieren. Aber auch das hat Grenzen: Die hochempfindlichen Haarsinneszellen im Innenohr können sich nicht mehr regenerieren. Es ist wie bei fast allen Sinneseindrücken: Überstarke Reize zerstören auf Dauer die Funktionsfähigkeit unserer Sinnesorgane. Für einen vorbeugenden Hörschutz ist das Bewusstsein in unserer Gesellschaft noch unterentwickelt. So erzeugen beliebte Geschenke für Kinder wie etwa die blechernen Knackfrösche noch in 80 Zentimeter Entfernung vom Ohr eine Spitzenbelastung von 128 Dezibel, Spielzeugpistolen gar 140 Dezibel. Kein Wunder, dass etwa jeder fünfte Deutsche bereits einen Hörschaden hat. Bei Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 19 Jahren ist es sogar jeder Vierte. Die Folge: Der Fernseher muss lauter gestellt werden. Und auch im Kino oder Konzertsaal wird der Pegel der Lautsprecher angehoben. Experten prognostizieren, dass wir in 50 Jahren ein einig Volk von Schwerhörigen sein werden. Was können wir tun? Fangen Sie bei sich selbst an. Es müssen nicht immer Meditationswochen hinter Klostermauern sein: Nutzen Sie die kostbare Zeit zwischen den Jahren doch auch einmal, um Ihre Ohren zu schärfen. Gestatten Sie sich dafür einige Rückzugstage- oder -abende. Er-hören Sie Ihren Alltag. Am besten schließen Sie dabei fest die Augen Wie klingen Schritte auf verschiedenen Bodenbelägen, wie das Sprechen oder Singen im Wohn- oder Schlafzimmer, in Bad oder Flur. Welche Geräusche dringen von draußen in Ihre Räume? Gibt es Wohllaute wie Vogelgezwitscher oder Klänge von Metall oder Holz, die Sie besonders lieben, mit denen Sie Assoziationen an Urlaub oder Entspannung verbinden? Gestalten Sie Ihre Umgebung unter dem Gesichtspunkt „Hörsamkeit“. Entfernen Sie so weit wie möglich akustischen Müll: Ändern Sie das nervige Telefonsignal, dichten Sie Fenster nach oder entlüften Sie die Heizung. Eliminieren Sie überflüssige maschinelle Geräusche und schaffen Sie sich einen Wecker an, der Ihren Ohren schmeichelt. Nutzen Sie die geräuschschluckende Wirkung von Pflanzen oder samtigen Stoffen. Und draußen? Suchen Sie angenehm klingende Plätze auf, genießen Sie die wohltuende Wirkung von Wind- und Wasserklängen. Das bewusste Hinhören verfeinert Ihr kommunikatives Ohr, auch in Gesprächen. Klang ist Kommunikation und verbindet – Krach hingegen trennt. Vielleicht tragen Sie auf Flugreisen oder während Bahnfahrten auch einmal Ohrstöpsel. Nutzen Sie die ruhige Zeit, suchen Sie sich ein beschauliches Rückzugsplätzchen. Und im neuen Jahr knöpfen Sie sich Ihren Arbeitsplatz vor und reinigen diesen gründlich von Lärm.

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