Reportage vom Nokia-Werk in Bochum Nokia: Seltsam blutleer

Soli-Zelt, Feuerfass und Menschenkette – warum der Kampf um die Nokia-Jobs in Bochum-Riemke verpufft und der Protest den Stadtteil kalt lässt.

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Gewerkschafter protestieren Quelle: AP

Eigentlich, sagt Wolfgang Siebert und grinst verlegen unter dem Schirm seiner roten IG-Metall-Kappe, „eigentlich sind wir nicht so ein streitfreudiges Völkchen“. Der Endfünfziger ist Betriebsrat bei Nokia in Bochum und schiebt an diesem Dienstag Mitte Februar Dienst im Soli-Zelt. Der Gasbrenner wärmt den niedrigen Raum. Auf einem Tapeziertisch stehen Käsekuchen und angetrocknete Käsebrötchen. Längst dementierte Namen erhoffter Investoren – BMW, Bosch – dringen aus einem Gespräch herüber. Solidaritätsadressen von Belegschaften anderer Unternehmen sind an eine Tafel und an eine Wäscheleine gepinnt, ebenso ironische Hinweise auf den Nokia-Slogan „connecting people“. Gediegene Arbeitskampfatmosphäre. Siebert allerdings fremdelt darin, auch sechs Wochen nach dem Schock vom 15. Januar, als das Nokia-Management ankündigte, es werde die Handyproduktion nach Rumänien verlagern.

Schlagartig standen die Nokianer in Riemke als Opfer eiskalter Manager im Scheinwerferlicht. Mit ihnen empörten sich das Land und die Politik. „No-Nokia“ hieß die Parole beim Handykauf, Politiker wie Verbraucherminister Horst Seehofer (CSU) warfen fernsehwirksam ihre Nokia-Telefone in den Müll, der Bochumer Stadtteil wurde für einige Wochen zu einem Brennpunkt des öffentlichen Interesses, samt Sondersendungen im Ersten und Kanzlerwort.

Doch anderthalb Monate nach den ersten Protesten ebbt die große Anti-Nokia-Welle ab. Längst schickt der Skandal um den zurückgetretenen Post-Chef Klaus Zumwinkel und milliardenfache Steuerhinterziehung neue Erregungswellen durchs Land. Hinter der Wucht des frischen Themas verblasst der Zorn über die treulosen Handybauer aus Finnland. Das öffnet den Blick für die eigentliche Geschichte von Nokia in Bochum-Riemke: die Chronik eines angekündigten Todes, das Lehrstück eines Unternehmens, das in 20 Jahren nie heimisch wurde.

Der Protest vor Ort wirkte trotz der ehrlichen Enttäuschung und Existenzsorgen der Nokianer von Anfang an wie eine Wiederholung und seltsam blutleer. Soli-Zelt und brennende Holzpaletten in rostigen Blechfässern vor der Werkseinfahrt, Menschenkette mit Fackeln in der Hand – sah es nicht genau so aus in Nürnberg, als Electrolux vor zwei Jahren die Schließung des AEG-Waschmaschinenwerks ankündigte und die Belegschaft auf die Barrikaden trieb? Erinnerte es nicht an Kamp-Lintfort, wo Benq im Herbst 2006 das von Siemens übernommene Handywerk in die Insolvenz schickte? Suppen-Manny mit der Feldküche, der die Benq-Opfer mit Eintopf versorgt hatte, stand nun am Nokia-Zelt. Die Leute von ThyssenKrupp Nirosta im silbernen Hochofen-Mantel brachten wie bei der letzten Opel-Unterstützungsdemo ihre auf einer Lkw-Ladefläche montierte schwere alte Werksglocke zum Tönen.

Die Nokianer haben einen Kampf vom Zaun gebrochen, der so sehr aus dem Lehrbuch der Protestkultur stammt, dass man in zwei Jahren kaum noch wissen wird, welchem Ort man die Bilder im Hinterkopf zuordnen soll. Die Parallelität ist kein Zufall.

Am 21. Januar steht Harald Dix zum ersten Mal in Riemke vor dem Nokia-Werkstor. Zuständig ist der Mann mit Ohrstecker, Calvin-Klein-Brille und Dreitagebart für die Organisation des Solidaritätszelts. Die Arbeit teilt er sich mit Markus Grolms. Dass so ein Zelt wichtig sein würde, um ihren Protest zu verorten, ist auch den Bochumer Nokianern klar. „Aber wie man so was macht“, sagt Betriebsrätin Margarete Nebe, „wissen wir nicht.“

Dix weiß es und Grolms auch. Beide – der eine in Nürnberg, der andere in Kamp-Lintfort – hatten die Soli-Zelte in ihren eigenen Kämpfen um Arbeitsplätze organisiert. Dix war Betriebsratschef und Aufsichtsrat bei AEG Electrolux in Nürnberg und zentrale Figur des Widerstands dort: Der siebenwöchige Streik bewegte damals die Republik. Die Werksschließung in Franken konnte Dix nicht verhindern. Aber danach, sagt der 46-Jährige, „gingen wir wenigstens mit erhobenem Kopf nach Hause“. Und mit ordentlichen Abfindungen. Mittlerweile steckt der Franke in einer einjährigen Ausbildung zum Gewerkschaftssekretär und ist SPD-Kandidat für den Nürnberger Stadtrat. Die IG-Metall-Zentrale fragte den Vater von vier Kindern, ob er kurzfristig alles stehen und liegen lassen und in Bochum mit anpacken wolle. Klar wollte er. Auch Benq-Veteran Grolms, 36, gibt seine Soli-Zelt-Erfahrung gerne in Bochum weiter.

Zunächst sorgen beide dafür, dass das auf dem nackten Gras aufgebaute Zelt einen Boden aus Plastik-Paletten bekommt, damit nicht alle im Matsch versinken beim ersten Regen. Was gebraucht wird, hat der Nürnberger im Hinterkopf. Wer es beschaffen kann, wissen die Bochumer, die in Vereinen, Clubs und Freundeskreisen vernetzt sind. Große, offene Feuer wären gut, meint Dix. Prompt finden sich unter den Bochumern Leute, die jemanden bei ThyssenKrupp kennen, und die bringen die Fässer, aus denen nun die Flammen lodern.

Im Zelt stapeln sich Kaffeepakete – Delegationen vom Personalrat der Stadt Bochum oder von der SPD-Ratsvertretung aus Herne bringen sie mit. Ladenbesitzer spendieren Brötchen, Würstchen, Kuchen. Das Zelt selber gehört zum Fundus des Roten Kreuzes. Es ist vom ersten Schichtwechsel fünf Uhr morgens bis zum dritten Schichtwechsel um 23 Uhr besetzt. Einer muss hinterm Tapeziertisch Kaffee kochen, ein Betriebsratsmitglied steht für Gespräche zur Verfügung. Im Zelt liegt ein roter Leitz-Ordner mit dem Einsatzplan, in den sich Freiwillige eintragen sollen. Morgens besprechen Dix und Grolms mit den Betriebsräten den Wochenplan. Samstag: Grillfest für Familien vor dem Soli-Zelt. Mittwoch: Die Kabarett-Crew „Gurkentruppe“ tritt am Zelt auf. Freitag: Kindergartenkinder gestalten ein Protest-Transparent. Mittags findet im Bochumer IG-Metall-Büro immer eine Lagebesprechung statt.

Das Feuer in den Fässern wärmt, Kameraleute filmen die Flammen vor dem Nokia-Schriftzug. Nachts sieht das dramatisch aus. „Wir denken in Bildern“, sagt die IG-Metall-Bevollmächtigte Ulrike Kleinebrahm, „man kriegt Übung in so was.“ Das Nokia-Management lenkt die Dienstwagen nicht mehr durch die wilde Protest-Zone. Deutschland-Chef Klaus Goll und die anderen Manager nehmen die Lieferanteneinfahrt.

Drei Wochen später. Mitte Februar wirkt die Szenerie ganz anders. Dix und Grolms sind wieder zu Hause. Im Soli-Zelt an der Meesmannstraße 103 verlieren sich drei einsame Männer. Keine TV-Übertragungswagen, die Feuer sind erloschen, die Blechtonnen erkaltet. Drinnen freut man sich über die Nachricht, dass das Traditionskonzert Nokia-Night-of-the-proms in Köln Probleme hat beim Kartenvorverkauf.

Am Wochenende wollen die Protestler beim BVB-Heimspiel in Dortmund Flagge zeigen – der Verein hat ihnen 1600 Freikarten geschenkt. Es ist eine der Aktionen, mit denen die IG Metall die öffentliche Unterstützung wieder anheizen will. Und das ausgerechnet beim Revierfeind? „In so einer Frage spielt es keine Rolle, ob du aus Bochum oder aus Dortmund kommst“, erklärt Betriebsrat Silvano Guidone, „da ist das Ruhrgebiet solidarisch.“ Beim VfL waren die Nokianer vor zwei Wochen im Stadion.

Dem IG-Metall-Vertrauensmann Ralf Wöhlke, der heute Zelt-Dienst hat, ist klar, dass die Botschaft „Nokia muss bleiben“ auf Plakaten und Buttons inzwischen überholt ist. Das wissen die Bochumer, seit sie in Helsinki mit dem Management reden durften, dabei aber auf Granit bissen. Der Beschluss des Nokia-Aufsichtsrats am 28. Februar, der das Aus besiegeln wird, ist nur noch Formsache. Vielleicht verwandelt die IG Metall den Slogan nun zu „Nokia muss blechen“, überlegt Wöhlke. Es geht nur noch darum, möglichst viel herauszuholen, bevor im Sommer die Tore geschlossen werden. Verhandlungen über Ersatzarbeitsplätze, Sozialplan, Abfindungen laufen an.

So viel Widerstand hat es in Riemke zuvor nie gegeben. 1985, 30 Jahre nach seiner Gründung war das dortige Fernsehwerk eines der modernsten Europas. In der Mittagspause packten Arbeiterinnen an den Montagetischen in der Werkshalle ihre Pausenbrote und Salate aus, schlangen in 20 Minuten das mitgebrachte Essen herunter. So anspruchslos waren sie hier immer, erzählt Betriebsrat Siebert – auch nachdem Nokia die Fabrik übernahm. Sie sagten Ja, als das Management außertarifliche Gehaltsbestandteile strich. Sie machten mit, als Nokia die Boni für die Jubilare kürzte. Sie verzichteten auf Zusatzurlaub für langjährige Betriebszugehörigkeit. Den ganzen Sparplan haben sie hingenommen vor vier Jahren, weil sie dachten, dafür blieben wenigstens die Arbeitsplätze sicher. So haben die Riemker auch nicht gestreikt nach der Schließungsankündigung, „weil die in Helsinki bestimmt mit einem Streik gerechnet haben“, sagt Siebert: „Wir wollten denen einfach zeigen, dass wir arbeiten möchten.“

Riemke ist die ideale Abkürzung, um von der Autobahn 40 schnell zur A 43 und von da aus ins Münsterland zu kommen: drei Kilometer klischeehaft graue Fassaden zwischen zwei Bochumer Ab- und Auffahrten.

Riemke war jahrhundertelang ein Dorf und wuchs mit den Bergwerken, die hier abgeteuft wurden, zu einem nördlichen Bochumer Stadtteil mit heute 7750 Einwohnern. Das Deutsche Bergwerksmuseum ist drei Kilometer entfernt. Zeche Constantin heißt noch 41 Jahre nach der Schließung die U-Bahn-Haltestelle zwischen Riemke und Hofstede. Die Zeche Hannibal gab dem Riemker Einzelhandels-Park mit Billigketten wie Matratzen Concord und Takko den Namen. Bochum-Graetz hieß der Bahnhof am Nokia-Werk, ehe er in Bochum-Nokia umbenannt wurde.

Doch die Verbundenheit, die es zwischen Graetz und Riemke gegeben hatte, ging 1988 verloren. Nokia war der Hoffnungsträger, sagt der CDU-Fraktionschef im Bochumer Stadtrat, Lothar Gräfingholt: „Aber Nokia kam als Fremdkörper, blieb Fremdkörper und geht als Fremdkörper.“ Gräfingholt wohnt nur zwei-, dreihundert Meter vom Werksgelände entfernt. Vielen Bochumern, die immer auf die Krisen bei Opel fixiert waren, habe erst der Krach um die Verlagerung „bewusst gemacht, dass Nokia überhaupt hier sitzt“. So kommt es, dass Riemke überhaupt nicht Flagge zeigt. Entlang der Durchgangsstraße keine Plakate, wie man sie bei der Großdemo im Januar am Riemker Markt sah. Sie verschwanden so wie die Hubers und Lafontaines mit dem Ende der Gewerkschaftsveranstaltung. Damals, vor gerade mal sechs Wochen, schwor Ulrich Schmölker in seinem Telefonlädchen im Hannibal-Einkaufscentrum, er werde ein Dutzend Motorola-, Samsung- und Sony-Ericsson-Handys kaufen und gegen die Nokias im Schaufenster austauschen. Niemand mehr wolle Nokias kaufen. Doch die liegen noch immer in der Auslage und haben ihren Platz auch zwischenzeitlich wohl nicht verlassen.

So wie man bereut, nicht wenigstens das dreckige Geschirr weggeräumt zu haben, wenn unerwartet Besuch vor der Tür steht, so ist dem Christdemokraten Gräfingholt einiges an seinem Heimat-Ortsteil peinlich. Präsentabel für potenzielle Investoren ist das Arbeiterviertel mit hohem Migrantenanteil tatsächlich nicht, auch wenn es nicht zu den ausgewiesenen Bochumern Problem-Quartieren gehört. Direkt beim Nokia-Entwicklungszentrum: ein schon lange leer stehendes Riesen-Einrichtungshaus – Möbel Unger hat die Buchstaben von der Wand montiert, aber der Namenszug blieb auf dem Putz lesbar. Gegenüber: eine noch ältere Fabrikruine, Grafitti-beschmiert, zerbrochene Fenster. Auf der feinstaubverseuchten Herner Straße zwischen den Autobahnauffahrten haben Läden zugemacht, wie die Metzgerei gegenüber der Kirche. Ein kleiner Möbelladen kündigt seine Schließung gerade an. Claus Pasel vom Elektrofachgeschäft Heim & Funktion direkt gegenüber des Riemker Marktplatzes sagt, er könne den Laden nur weiterbetreiben, weil er als Hausbesitzer keine Miete aus dem Umsatz finanzieren muss. „Ja“, sagt Hans-Martin Agethen – Vorsitzender des Werberings Riemke –, auch der Uhrmacher habe Ende 2007 altersbedingt aufgehört, ohne Nachfolger: „Riemke ist auf dem absterbenden Ast.“ Die Stadt habe zwar aus dem zuvor müllverseuchten Tippelsberg ein hübsches Naherholungsgebiet gemacht: „Von da gucken Sie bis zur Arena in Gelsenkirchen.“ Richtung Herne gebe es gar einen Grüngürtel, „da kann man wandern, bis das Blut kommt“. Aber sonst beschreibt der gut gelaunte Bestattungsunternehmer die Lage so trist, wie sie aussieht: „Wer bei Nokia war, wird arbeitslos oder der Arbeit hinterherziehen. Neue Arbeitgeber werden vor allem qualifizierte Pendler einstellen. Und diejenigen, für die Riemke Heimat ist, werden immer weniger.“

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