Richard Florida im Interview „Intolerante Orte sterben“

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Ihren Forschungen zufolge zieht Toleranz Talent an. Gibt es umgekehrt intolerante Talente? Intolerante und engstirnige Orte sterben. Es mag Ausnahmen geben. Aber es wird enger, je mehr Angehörige der kreativen Klasse ihren Wohnort frei wählen können. Die Wahl des Wohnorts ist wahrscheinlich die wichtigste Entscheidung im Leben. Mehr und mehr Menschen sind in der Lage, sich den Platz auszusuchen, an dem sie leben wollen. Sie verändern damit die Weltwirtschaft. Eine solche Entwicklung produziert auch Verlierer. Ja. Die Welt ist nicht flach. Sie hat Spitzen, gebildet von Megazentren, die besonders innovativ sind. Und wir erleben nicht nur einen wirtschaftlichen, sondern auch einen sozialen Wandel. Viele fühlen sich von den Veränderungen bedroht. Wer vor allem? Es sind vor allem Ältere, vorwiegend Männer mittleren Alters. Die wachsende gesellschaftliche Rolle der Frauen, von Singles, von Schwulen und Lesben, von Immigranten – das jagt manchen Angst ein. Und leider werden diese Gruppen zunehmend zu Sündenböcken für Missstände gemacht, anstatt zu sagen, wir müssen uns dem Problem stellen und eine Wirtschaft befördern, an der möglichst viele partizipieren können. Droht eine Zweiklassengesellschaft zwischen kreativen und weniger kreativen Menschen? Die Gefahr besteht. Die Kluft zwischen den Kreativen und der übrigen Gesellschaft wächst. Ebenso zwischen den Regionen, die Kreative anziehen können, und jenen, die nicht dazu in der Lage sind. Das produziert heftige politische und kulturelle Verwerfungen, die mein Land bereits lähmen und auch anderswo auf der Welt zu beobachten sind. Die Situation ist mit der industriellen Revolution zu vergleichen, die neben immensem Wirtschaftswachstum eine ökonomisch bevorzugte Schicht von Leuten hervorbrachte und eine Reihe von wirtschaftlich sehr starken Regionen – was soziale, politische und militärische Spannungen bedingte. Was schlagen Sie dagegen vor? Wir müssen sicherstellen, dass viele Menschen an der kreativen Wirtschaft teilhaben. Wir können die Welt nicht vorantreiben, wenn 30 Prozent der Leute in entwickelten Ländern mitwirken und alle anderen zurückfallen. Die Sozialdemokratie beschäftigte sich in der Vergangenheit damit, wie man materielle Güter besser verteilt. Diese Debatte ist vorbei. Sie ist irrelevant. Tatsächlich geht es darum, wie man Menschen dazu bringt, ihre Talente zu entwickeln und sie ökonomisch zu nutzen. Deutschland hat lebenswerte Städte und gute Universitäten. Trotzdem wandern Talente ins Ausland ab. Was läuft falsch? Ich mag Deutschland. Aber Deutschland ist noch immer nicht weltoffen genug. All die großen Wirtschaftsmächte – Japan, Deutschland und nun auch die USA – sind in dieser nationalen Identitätskrise verhaftet. Es geht nicht um Einwanderung. Es geht darum, Talente anzuziehen. Volkswirtschaften wie Australien, Kanada, Neuseeland und die skandinavischen Länder, neuerdings sogar Großbritannien, haben das erkannt und richten sich danach. Deutschland wird von der gleichen Einwanderungsdebatte herunterzogen wie wir sie in den USA haben: Immigranten sind schlechter ausgebildet, sie liegen uns auf der Tasche und so weiter. Die eigentliche Debatte sollte sein: Wie kann Deutschland mit seinen guten Universitäten, seiner fantastischen wissenschaftlichen Tradition und seinen wunderbaren Städten attraktiv für Talente aus der ganzen Welt werden? Und? Kann es das? Deutschland hat sich zu einer offenen, lebenswerten und toleranten Gesellschaft entwickelt, die Schweden ähnelt – mit einer starken Rolle von Frauen, Rechten für Schwule und hohen Umweltschutzstandards. Das Land hat eine hervorragende Basis. Die Frage ist, ob der politische Wille vorhanden ist, sie zu nutzen.

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