Holger Geißler Was den typischen Brexit-Befürworter ausmacht

Was denn nun? Kurz vor dem Brexit-Referendum ist längst nicht klar, wie sich die Briten entscheiden. Meinungsforscher Geißler erklärt, warum es ein knappes Rennen wird, wer in der EU bleiben und wer sie verlassen will.

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Was die Briten an der EU stört
Mittelstand könnte beim Brexit-Referendum am 23. Juni den Ausschlag geben Quelle: dpa, Montage
Nationale IdentitätAls ehemalige Weltmacht ist Großbritanniens Politik noch immer auf Führung ausgelegt. London ist gewohnt, die Linie vorzugeben, statt sich mühsam auf die Suche nach Kompromissen zu begeben. „London denkt viel mehr global als europäisch“, sagt Katinka Barysch, Chefökonomin beim Centre for European Reform in London. Die Angst, von EU-Partnern aus dem Süden Europas noch tiefer in die ohnehin schon tiefe Krise gezogen zu werden, schürt zusätzliche Aversionen. Quelle: dpa
Finanztransaktionssteuer und Co.Die Londoner City ist trotz massiven Schrumpfkurses noch immer die Lebensader der britischen Wirtschaft. Großbritannien fühlt sich von Regulierungen, die in Brüssel ersonnen wurden, aber die City treffen, regelrecht bedroht. „Regulierungen etwa für Hedgefonds oder die Finanztransaktionssteuer treffen London viel mehr als jeden anderen in Europa“, sagt Barysch. Allerdings hatte die Londoner City in der Finanzkrise auch mehr Schaden angerichtet als andere Finanzplätze. Quelle: dpa
Regulierungen des ArbeitsmarktsGroßbritannien ist eines der am meisten deregulierten Länder Europas. Strenge Auflagen aus Brüssel, etwa bei Arbeitszeitvorgaben, stoßen auf wenig Verständnis auf der Insel. „Lasst uns so hart arbeiten wie wir wollen“, heißt es aus konservativen Kreisen. Quelle: dapd
EU-BürokratieDie Euroskeptiker unter den Briten halten die Bürokratie in Brüssel für ein wesentliches Wachstumshemmnis. Anti-Europäer in London glauben, dass Großbritannien bilaterale Handelsabkommen mit aufstrebenden Handelspartnern in aller Welt viel schneller aushandeln könne als der Block der 27. Die Euroskeptiker fordern auch, dass der Sitz des Europaparlaments in Straßburg (hier im Bild) abgeschafft wird und die Abgeordneten nur noch in Brüssel tagen. Quelle: dpa
MedienDie britische Presse ist fast durchgehend europafeindlich und prägt das Bild der EU auf der Insel. Das hat auch politische Wirkung. „Ich muss meinen Kollegen in Brüssel dauernd sagen, sie sollen nicht den 'Daily Express' lesen“, zitiert die „Financial Times“ einen britischen Minister. Quelle: dpa

WirtschaftsWoche Online: Herr Geißler, in Ihren Meinungsumfragen zum Brexit-Referendum liegen die EU-Gegner vorn. Die Buchmacher in den Wettbüros gehen hingegen von einem Verbleib aus. Die Quoten wären gut. Zeit, Geld zu setzen?
Holger Geißler: Bei unserer jüngsten Meinungsumfrage haben sich tatsächlich 42 Prozent der Briten für den Verbleib ausgesprochen und 44 dagegen. Das ist so nah beieinander, dass beide Entscheidungen möglich sind. Vor zwei Tagen lag Remain noch einen Punkt vorn. Ich würde lieber aus Spaß darauf setzen, dass Albanien die EM gewinnt. Persönlich glaube ich, dass Großbritannien EU-Mitglied bleibt. Darauf zu wetten, lohnt sich aber kaum.

Die Ergebnisse der Meinungsumfragen liegen seit Wochen nah beieinander - woher kommt dieses Kopf-an-Kopf-Rennen?

Zur Person


Viele Briten haben erst in den vergangenen Tagen begonnen, sich ganz bewusst mit dem Thema zu beschäftigen. Das verändert die Aussagen. So langsam wächst auch die Sorge vor den Folgen des Brexits. Es ist das eine, Wochen vor dem Referendum auf die EU zu schimpfen. Eine ganz andere ist es, dann sein Kreuzchen zu machen.

In dieser Atmosphäre können einzelne Ereignisse den Ausschlag geben. Der Mord an der Labour-Politikerin und Brexit-Gegnerin Jo Cox...
… hat dem Referendum nochmal eine ganz neue Schwere gegeben. Schon die Frage, ob die Tat politisch motiviert war, könnte bei Unentschlossenen den Reflex auslösen, dass die Leave-Anhänger zu stark radikalisiert sind. Zugleich hat das Aussetzen des Wahlkampfs nach dem Attentat für eine  Pause gesorgt, die die Chance zum Reflektieren gab. Jetzt geht der Wahlkampf in unverminderter Lautstärke weiter.

Die wichtigsten Infos zum Brexit-Referendum

Ein hoher Prozentsatz der Briten hat sich bislang gar nicht entschieden.
Bis zu 15 Prozent sind unentschlossen. Diese Bürger werden den Ausschlag geben. Je nachdem was noch passiert und für welche Seite sie sich entscheiden, kann es ein sehr knappes Rennen werden. Es gibt aber Hoffnung für die EU-Anhänger: Andere Abstimmungen wie das Referendum in Schottland haben gezeigt, dass die Unentschlossenen aus Risikoaversion heraus für den Status Quo stimmen.

Wer für den Verbleib stimmt, hat Angst?
Er befürchtet zumindest, dass es Großbritannien insgesamt und ihm persönlich nach dem Austritt wirtschaftlich schlechter gehen könnte. Das sind die Hauptgründe, für den Verbleib zu stimmen. Die Unterstützer der Leave-Bewegung sorgen sich dagegen vor allem vor dem Zuzug von Einwanderern aus Osteuropa. Grob gesagt stimmen sie aus der Sorge vor Überfremdung für den Austritt. Außerdem hat die EU-Skepsis eine lange Tradition in Großbritannien. Das Selbstverständnis als Königreich passte für viele nie damit zusammen, nur Teil einer europäischen Union zu sein.

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