WirtschaftsWoche Online: Herr Geißler, in Ihren Meinungsumfragen zum Brexit-Referendum liegen die EU-Gegner vorn. Die Buchmacher in den Wettbüros gehen hingegen von einem Verbleib aus. Die Quoten wären gut. Zeit, Geld zu setzen?
Holger Geißler: Bei unserer jüngsten Meinungsumfrage haben sich tatsächlich 42 Prozent der Briten für den Verbleib ausgesprochen und 44 dagegen. Das ist so nah beieinander, dass beide Entscheidungen möglich sind. Vor zwei Tagen lag Remain noch einen Punkt vorn. Ich würde lieber aus Spaß darauf setzen, dass Albanien die EM gewinnt. Persönlich glaube ich, dass Großbritannien EU-Mitglied bleibt. Darauf zu wetten, lohnt sich aber kaum.
Die Ergebnisse der Meinungsumfragen liegen seit Wochen nah beieinander - woher kommt dieses Kopf-an-Kopf-Rennen?
Zur Person
Holger Geißler ist Head of Research beim Meinungsforschungsinstitut YouGov.
Viele Briten haben erst in den vergangenen Tagen begonnen, sich ganz bewusst mit dem Thema zu beschäftigen. Das verändert die Aussagen. So langsam wächst auch die Sorge vor den Folgen des Brexits. Es ist das eine, Wochen vor dem Referendum auf die EU zu schimpfen. Eine ganz andere ist es, dann sein Kreuzchen zu machen.
In dieser Atmosphäre können einzelne Ereignisse den Ausschlag geben. Der Mord an der Labour-Politikerin und Brexit-Gegnerin Jo Cox...
… hat dem Referendum nochmal eine ganz neue Schwere gegeben. Schon die Frage, ob die Tat politisch motiviert war, könnte bei Unentschlossenen den Reflex auslösen, dass die Leave-Anhänger zu stark radikalisiert sind. Zugleich hat das Aussetzen des Wahlkampfs nach dem Attentat für eine Pause gesorgt, die die Chance zum Reflektieren gab. Jetzt geht der Wahlkampf in unverminderter Lautstärke weiter.
Die wichtigsten Infos zum Brexit-Referendum
Brexit ist ein Kunstwort aus Britain und Exit (Austritt). Im Juni 2012 schrieb das britische Magazin "Economist" erstmals von der Möglichkeit eines "Brixit". Danach etablierte sich in der Presse die Version "Brexit". Vorbild dieser Wortschöpfung war der Begriff "Grexit", der sich auf dem Höhepunkt der Griechenland-Krise etablierte. Gemeint war damit aber nur das - mögliche - Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone.
Die Abstimmung wurde den Wählern von Premier David Cameron versprochen - seine Tory-Partei war damit in den Wahlkampf zur Unterhauswahl 2015 gezogen. Cameron, der selbst für die EU-Mitgliedschaft eintritt, wollte parteiinternen EU-Skeptikern damit den Wind aus den Segeln nehmen. Schon seit Jahren gab es parteiintern die Forderung nach einer Befragung des Volkes zum Verbleib in der EU. Die Unzufriedenheit mit der Zuwanderungspolitik der europäischen Partner bestärkte viele Briten in ihrer Ablehnung gegenüber der EU. Der Kampagne war ein Machtkampf mit der Europäischen Union voraus gegangen. Bereits 2011 hatte Cameron seine Zustimmung zum EU-Fiskalpakt verweigert und kurz darauf mit einem Veto zur mittelfristigen Finanzplanung der EU gedroht. In harten Verhandlungen rang Cameron den europäischen Partnern Zugeständnisse ab, etwa beim für den Finanzplatz London so wichtigen Thema der Bankenregulierung.
Befürworter eines Brexit wie der ehemalige Bürgermeister Londons, Boris Johnson, argumentieren, dass die EU für Großbritannien als drittgrößter Nettozahler ein Verlustgeschäft sei. Ein weiteres Argument ist die Kontrolle über die Grenzen. Unionsbürger haben das Recht, sich im Königreich niederzulassen. Derzeit leben und arbeiten dort mehr als zwei Millionen Menschen aus anderen EU-Ländern. Sie belasten angeblich die sozialen Sicherungssysteme - Studien widerlegen dies jedoch. Die in den Augen vieler Briten ausufernde Regulierung durch Brüssel sorgt zudem für Unmut. Brexit-Befürworter halten die EU außerdem für nicht ausreichend demokratisch legitimiert und fordern die Rückbesinnung auf nationale Souveränität.
Die Anhänger des EU-Verbleibs warnen in erster Linie vor wirtschaftlichen Konsequenzen. Einem Gutachten des britischen Finanzministeriums zufolge würde der Brexit jeden Haushalt in Großbritannien 4300 Pfund pro Jahr kosten. Der Grund: Das Land müsste neue Freihandelsabkommen abschließen, Investitionen aus Drittstaaten könnten zurückgehen und Banken könnten nach Kontinentaleuropa abwandern. Die Folge wäre eine Rezession.
Die Wahllokale sind am Donnerstag von 07.00 Uhr morgens bis 22.00 Uhr britischer Zeit geöffnet - also von 08.00 bis 23.00 Uhr deutscher Zeit. Nur in Gibraltar schließen die Wahllokale wegen der Zeitverschiebung eine Stunde früher. Danach beginnt die Auszählung. Nach bisherigem Stand wird es nach Schließung der Wahllokale weder Prognosen noch Hochrechnungen geben. Im Laufe der Nacht werden aber die Ergebnisse aus den einzelnen Wahlbezirken nach und nach bekannt werden. Die meisten Resultate dürften zwischen 03.00 und 05.00 Uhr deutscher Zeit vorliegen. Ein Endergebnis wird am Freitag um die Frühstückszeit erwartet - wenn es nicht wegen Pannen zu Verzögerungen kommt.
Ein hoher Prozentsatz der Briten hat sich bislang gar nicht entschieden.
Bis zu 15 Prozent sind unentschlossen. Diese Bürger werden den Ausschlag geben. Je nachdem was noch passiert und für welche Seite sie sich entscheiden, kann es ein sehr knappes Rennen werden. Es gibt aber Hoffnung für die EU-Anhänger: Andere Abstimmungen wie das Referendum in Schottland haben gezeigt, dass die Unentschlossenen aus Risikoaversion heraus für den Status Quo stimmen.
Wer für den Verbleib stimmt, hat Angst?
Er befürchtet zumindest, dass es Großbritannien insgesamt und ihm persönlich nach dem Austritt wirtschaftlich schlechter gehen könnte. Das sind die Hauptgründe, für den Verbleib zu stimmen. Die Unterstützer der Leave-Bewegung sorgen sich dagegen vor allem vor dem Zuzug von Einwanderern aus Osteuropa. Grob gesagt stimmen sie aus der Sorge vor Überfremdung für den Austritt. Außerdem hat die EU-Skepsis eine lange Tradition in Großbritannien. Das Selbstverständnis als Königreich passte für viele nie damit zusammen, nur Teil einer europäischen Union zu sein.