Bestseller-Autor Nicholas Carr "Computer verschärfen die soziale Ungleichheit"

Gut bezahlte Jobs werden zunehmend durch computergesteuerte Maschinen ersetzt, prophezeit Nicholas Carr. Der Bestseller-Autor warnt: Das Streben nach Effizienz zerstört menschliche Fähigkeiten.

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Aus dem Alltag sind Computer nicht mehr wegzudenken, doch sie wiegen uns in trügerischer Sicherheit Quelle: dpa

Wirtschaftswoche: Herr Carr, Computer und Algorithmen übernehmen immer mehr Aufgaben für uns. Werden wir zu den Sklaven unserer Smartphones?

Nicholas Carr: Wir verlassen uns in vielen Situationen in unserem täglichen Leben zu stark auf Computer. Das zeigt sich besonders deutlich, seitdem wir alle einen Computer in unserer Hosentasche griffbereit mit uns herumschleppen. Wir schätzen den Komfort, die Effizienz und den Zeitvorsprung, den uns neue Technologien zweifellos ermöglichen. Aber wir übersehen dabei oft, was alles auf der Strecke bleibt. Wir lassen den Computer immer mehr Dinge erledigen - bemerken dabei aber nicht, dass wir glücklicher waren, als wir diese Dinge noch selbst gemacht haben.

Zur Person

Zum Beispiel?

Wenn Sie jahrelang ein Auto mit Gangschaltung gefahren sind und dann auf Automatik wechseln, fühlen Sie sich zunächst total befreit. Ihr linker Fuß muss nicht mehr kuppeln, Ihre rechte Hand klebt nicht mehr ständig am Schaltknüppel. Doch nach einiger Zeit schlägt die Freude, weniger zu tun zu haben, in ein anderes Gefühl um: in Langeweile. Die Koordination von Hand und Fuß mit Gas, Bremse, Kupplung und Schaltknüppel beansprucht uns in genau dem richtigen Ausmaß. Sie überfordert uns nicht, aber sie unterfordert uns auch nicht. Der Glücksforscher Mihály Csíkszentmihályi hat herausgefunden, dass wir nach kaum einer Tätigkeit so dankbar und glücklich sind wie nach dem Autofahren.

Gerade im Straßenverkehr zielt Automatisierung doch auch auf einen anderen Aspekt: Sicherheit. Ist es da nicht konsequent von Konzernen wie Google oder Daimler, in Zukunft auf selbstfahrende Autos zu setzen? Immerhin werden 90 Prozent der Verkehrsunfälle durch menschliches Versagen verursacht.

Ich bin sehr froh, dass es Leute gibt, die an Autos arbeiten, die ohne menschliche Hilfe fahren können. Aber ich glaube nicht, dass es im menschlichen Leben ausschließlich um Sicherheit geht. Die meisten von uns sind lieber Fahrer als Passagier. Noch dazu sind wir weit davon entfernt, dass autonome Fahrzeuge in allen denkbaren Situationen reibungslos funktionieren. Für eine lange Zeit werden wir weiterhin Menschen in den Fahrprozess einbinden müssen – zumindest als Rückversicherung, um zur Not eingreifen zu können. Wir müssen wachsam bleiben und versuchen mit unserer Aufmerksamkeit nicht zu sehr abzuschweifen, sonst versagen wir, wenn wir wirklich gebraucht werden – wenn die Maschine plötzlich ausfällt.

Wo Maschinen menschliche Arbeitskraft ersetzen
1. BankkassiererWann haben Sie eigentlich das letzte Mal Geld am Schalter bei einem Bankkassierer abgehoben? Richtig, das ist lange her. Mittlerweile können Überweisungen, Auszahlungen und die Abfrage des Kontostands bequem am Automaten erledigt werden. Lediglich bei komplizierten Überweisungen oder spezielle Fragen zieht es die Kunden noch zu den Bankkassierern an den Schalter. Laut Mark Gilder von der Citibank können „mindestens  85 Prozent der Transaktionen, die am Schalter gemacht werden können, auch durch den Automaten übernommen werden.“ Und das ist noch nicht das Ende: Citibank experimentiert derzeit mit videobasierten Schaltern in Asien. Quelle: AP
2. KassiererWer in einem großen Supermarkt einkaufen geht, kann sie kaum übersehen: Die Selbstzahl-Schalter. Anstatt sich an der Kasse anzustellen, greifen viele Kunden schon jetzt auf die Möglichkeit der Zahlung am Automaten zurück. Selbst die Produkte aus dem Einkaufswagen einscannen und am Automaten bar oder mit der EC-Karte bezahlen. Rund 430.000 solcher Automaten sind weltweit bereits in Betrieb – mehr als das Vierfache als noch im Jahr 2008. Auch wenn Supermärkte wie Big Y und Albertson’s (USA) und auch Ikea nach Kundenbeschwerden ihre Selbstzahl-Automaten wieder zurückzogen geht der Trend doch eindeutig in Richtung elektronischer Bezahlung. Quelle: dpa
3. RezeptionistLange waren Rezeptionisten das "Gesicht" der Hotels und erste Anlaufstelle für die Gäste. Bald könnten auch sie durch virtuelle Arbeitskräfte ersetzt werden. In Japan wurde sogar schon mit Robotern experimentiert. Ob das den Kunden gefällt, ist jedoch eine andere Frage. Mit einem Automaten zu telefonieren, geht den meisten auf die Nerven, bei einem Roboter einzuchecken, macht ihnen Angst. Viele bevorzugen nach wie vor das persönliche Gespräch. Deswegen gute Nachricht für Rezeptionisten: Die Anzahl an Arbeitsplätzen in der Branche steigt derzeit um etwa 14 Prozent. Quelle: AP
4. TelefonistMenschen, die in einer lange Reihe vor Telefonen sitzen und Kundenanfragen bearbeiten, dieses Bild könnte bald schon der Vergangenheit angehören. Anrufbeantworter und computergenerierte Antwortprogramme ersetzen in diesem Bereich zunehmend die menschliche Arbeitskraft. Insbesondere Telefonumfragen, Tickethotlines und Informationsdienste von Firmen greifen bereits auf computergesteuerte Telefonannahmen zurück. Per Tastenkombination kann der Anrufer sich dann durch ein Menü klicken und auswählen, welche Informationen er abrufen möchte. Quelle: AP
5. PostboteDie E-Mail-Branche stellt Postunternehmen zunehmend vor finanzielle Probleme. Handgeschriebene Briefe werden immer seltener, wer sich etwas zu sagen hat, sei es privat oder im Job, der tut das meist per E-Mail. Immer weniger Briefe werden daher ausgetragen. Das Bureau of Labor Statistics sagt Postboten bis 2022 einen Arbeitsplatzrückgang von 28 Prozent voraus. Quelle: dpa
6. Reisebürokaufmann/-frauEs gab Zeiten, da existierte weder Expedia noch Orbitz. Um einen Flug zu buchen, musste man ins Reisebüro und sich von Reisekaufleuten beraten lassen. Heutzutage wird das für viele überflüssig. Anstelle von Katalogen und persönlicher Beratung vergleich sie im Internet die Preise und buchen ihren Urlaub direkt online. Das spart den Gang zum Reisebüro und kann bequem von zu Hause erledigt werden. Das  Bureau of Labor Statistics sagt der Branche daher einen Rückgang von gut zwölf Prozent bis 2022 voraus. Quelle: AP
8. MaschinenschreiberKönnen Sie sich vorstellen, wie der Geschäftsführer seine Sekretärin bittet auf der Schreibmaschine „einen Brief auf zusetzen?“ Das ist heute längst aus der Mode geraten. In Zeiten bloggender, twitternder Chefs und stimmenaufzeichnender Software, sind Maschinenschreiber längst überflüssig. In den nächsten acht Jahren wird die Anzahl der Arbeitskräfte in diesem Bereich laut Bureau of Labor Statistics noch um weitere sechs Prozent zurückgehen.   Quelle: dpa

Wiegen uns Computer in ein falsches Gefühl von Sicherheit?

Ja, in unserem Streben nach Sicherheit und Effizienz gehen wir womöglich zu weit. Die US-amerikanische Luftfahrtbehörde FAA hat vergangenes Jahr einen Report veröffentlicht, der nahelegt, dass unsere Piloten nicht mehr genug Erfahrung im manuellen Fliegen haben. Sie verlassen sich so sehr auf die Computer und Bordinstrumente, dass sie ihre eigenen Flugfähigkeiten und Instinkte verlieren. Wenn wir die Verantwortung für das Flugzeug und die Passagiere wieder stärker auf die Piloten anstatt auf die Computer verlagern, würden wir vielleicht sicherer fliegen, als dies jetzt der Fall ist.

Heute gibt es weit weniger Flugzeugabstürze als noch vor 15 oder 20 Jahren. Technologische Errungenschaften haben dazu doch wesentlich beigetragen.

Absolut. Die Automatisierung in der Luftfahrt ist eine Erfolgsgeschichte. Aber im Laufe der vergangenen 100 Jahre Fluggeschichte haben wir die Arbeit Stück für Stück vom Mensch zur Maschine verlagert. Und heute sehen wir, dass wir vielleicht einen Schritt zu weit gegangen sind. Selbst wenn Automation prinzipiell begrüßenswert ist, heißt das ja nicht gleich, dass jede weitere Automatisierung auch hilfreich ist. Ab einem bestimmten Punkt ziehen wir die menschliche Expertise zu stark zurück und machen die Dinge dadurch unsicherer als zuvor.

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