Arbeitszeitgesetz Warum es so schwierig ist, flexiblere Arbeitszeiten einzuführen

Alle fordern flexible Arbeitszeitmodelle. Quelle: Getty Images

Der Wunsch nach Flexibilität in der Arbeitswelt führt unzählige Arbeitnehmer und Arbeitgeber ins rechtliche Nirwana. Antworten auf die wichtigsten Fragen zum Arbeitszeitgesetz.

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Kaum in Amt, werden an den neuen Bundesarbeitsminister Hubertus Heil große Wünsche herangetragen. In dieser Woche formulierte ihn zuerst der Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, Hans Peter Wollseifer. Die Branche hoffe, dass Heil bereit sei, mehr Flexibilität bei Arbeitszeiten zuzulassen. Begründung: „Ein zu enges Arbeitszeitkorsett und zu starre und unflexible arbeitsrechtliche Vorschriften tun der Wirtschaft nicht gut.“ Kurz darauf sprangen die Arbeitgeberverbände auf: „Die deutsche Wirtschaft braucht mehr als bloße Experimentierräume, wir fordern mit Nachdruck ein grundlegendes Update des Arbeitszeitgesetzes“, sagte BDA-Präsident Ingo Kramer der „Rheinischen Post“.

Worauf wollen die Befürworter von mehr Flexibilität hinaus?
Das Arbeitszeitgesetz in Deutschland stammt aus dem Jahr 1994. Es setzt die tägliche Arbeitszeit auf acht Stunden fest, in Ausnahmefällen dürfen es zehn sein. Zwischen zwei Arbeitseinsätzen sollen elf Stunden Ruhezeit liegen. Vor allem die Ruhezeit stellt Juristen vor große Fragen und Arbeitgeber vor ein Dilemma. Ist der abendliche Mailcheck am Smartphone eine Unterbrechung der Ruhezeit? Müsste der Arbeitnehmer danach nicht weitere elf Stunden ruhen? Und wenn ja, wie kann man ihn vor dem – häufig sicher unbewussten – Rechtsbruch bewahren? Die Antworten darauf sind bislang hilflos bis drastisch ausgefallen. Zeitweise versuchten es große Unternehmen wie BMW und VW damit, die Mailserver über Nacht herunterzufahren. Fakt ist: Jüngst zeigte eine Studie, dass die Deutschen im Schnitt pro Woche fünf Stunden Arbeit außerhalb der Zeit im Büro erledigen.

Mitte März stellte auch die FDP im Bundestag einen Antrag, wonach nicht mehr die tägliche Arbeitszeit von acht Stunden, sondern eine wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden bindend sein sollte. Die FDP monierte auch, dass das deutsche Arbeitszeitgesetz strenger sei als die darin zu erfüllende EU-Arbeitszeitrichtlinie. „Das smarteste an Telefonen war, wenn sie keine Wählscheibe mehr hatten“, sagte Antragsteller Johannes Vogel über das Entstehungsjahr des Gesetzes. „Die Welt hat sich seitdem verändert.“

Alle Jahre wieder - warum kommt der Ruf nach Lockerung genau jetzt?
Der Konflikt ist nicht neu, erst im vergangenen Jahr scheiterte die damalige Arbeitsministerin Andrea Nahles im Bundestag mit ihrem Vorschlag, Tarifpartnern durch eine gesetzliche Experimentierklausel mehr Spielraum zu geben – ihr Vorstoß fand keine Mehrheit. Im neuen Koalitionsvertrag der Großen Koalition ist die Absicht formuliert, man wolle „über eine Tariföffnungsklausel im Arbeitszeitgesetz Experimentierräume für tarifgebundene Unternehmen schaffen, um eine Öffnung für mehr selbstbestimmte Arbeitszeit der Arbeitnehmer und mehr betriebliche Flexibilität in der zunehmen digitalen Arbeitswelt zu erproben.“ Das reicht vielen nicht. Der Handwerkspräsident etwa steht für eine Vielzahl von kleineren Betrieben, die sich in dieser Experimentierphase weiterhin an die Regeln des Arbeitszeitgesetzes halten müssten. Der Arbeitgeberpräsident reibt sich am Wort „Experimentierräume“, das noch lange keine endgültige Regelung verspricht. „Der Bäcker um die Ecke, die Kneipe um die Ecke sind im Zweifel Kleinbetriebe, die keine Betriebsräte haben“, sagt der Düsseldorfer Fachanwalt für Arbeitsrecht Martin Nebeling.

Wo gilt das Arbeitszeitgesetz – und wo nicht?
Es gilt, anders als das Kündigungsschutzgesetz und das Betriebsverfassungsgesetz, für alle Betriebe, unabhängig von der Größe. „Allerdings gibt es schon länger die Option, durch einen Tarifvertrag oder eine Betriebsvereinbarung davon abzuweichen. Davon wird in vielen Betrieben Gebrauch gemacht“, erklärt Nebeling.

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Was spricht für eine Lockerung des Arbeitszeitgesetzes?
Die Argumente sind immer wieder ähnlich: Die einen führen die Bedürfnisse der Arbeitgeber ins Feld, die je nach Arbeitsaufkommen ihre Mitarbeiter mal länger und mal kürzer einsetzen wollen. Andere argumentieren, auch die Beschäftigten wünschten sich mehr Flexibilität, um Mehr- und Minderarbeit zu ihrem eigenen Vorteil einsetzen zu können. „Was ist, wenn jemand morgens zwei Stunden arbeitet, dann die Kinder zur Schule bringt, dann wieder arbeitet, dann Mittagessen kocht, nachmittags nochmal zwei Stunden arbeitet und abends, wenn die Kinder im Bett sind, noch einmal zwei Stunden von 21 bis 23 Uhr? Das wären insgesamt 8 Stunden, aber auf den Tag verteilt. Genau so ein Modell wäre ja denkbar und ein Vorteil für Menschen, die nur so Beruf und Familie vereinbaren können. Das Arbeitszeitgesetz erlaubt so ein Modell aber nicht“, sagt Nebeling.

Welche Argumente haben die Gegner einer Lockerung?
Von Seiten der Gewerkschaften und Tarifpartner kommt die Warnung, dass es in Wahrheit um Mehrarbeit gehe. Sie argumentieren, das Arbeitszeitgesetz sei bereits extrem flexibel, zählen Regelungen zu Wochenend- und Nachtarbeit auf sowie Betriebsvereinbarungen in Konzernen mit Arbeitszeitkonten und andere hochflexible Lösungen auf. Trotz oder gerade wegen all dieser bereits vorhandenen Ausnahmen pochen sie auf das Arbeitszeitgesetz als Schutzgesetz für Arbeitnehmer – im Zweifel auch vor sich selbst. „Man darf die Zielsetzung des Arbeitszeitgesetzes nicht aus den Augen verlieren, nämlich den Schutz des Arbeitnehmers. Da geht es um Gesundheit und Schutz vor Überforderung“, sagt der Berliner Fachanwalt für Arbeitsrecht, André Kasten. Auch er gibt zu bedenken: „Wahrscheinlich verstößt jeder zweite gegen das Arbeitszeitgesetz, sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber. Für den Arbeitnehmer ist das in der Regel kein Risiko, für den Arbeitgeber schon.“ Mehr Flexibilität kann aber auch Arbeitnehmer unter Druck setzen. „Es ist nicht immer ganz klar, wo die Freiwilligkeit anfängt und aufhört. Auch wenn der Arbeitnehmer sagt, es sei für ihn in Ordnung, flexibel zu arbeiten, kann es sein, dass er es aus dem Zwang heraus tut, sonst die Stelle nicht zu bekommen“, sagt Martin Nebeling.

Warum belässt man es nicht beim Status Quo? Sind die Arbeitnehmer damit nicht fein raus?
Wenn in der Praxis täglich millionenfach das geltende Gesetz gebrochen wird, kann man freilich sagen: Wo kein Kläger, da kein Richter. Aus Sicht der Politik ist ein solcher Zustand nicht tragbar - schließlich fordern Politiker täglich in anderen Kontexten, Gesetze müssten eingehalten werden. Arbeitnehmer können in der jetzigen Lage zwar auf den Schutz des Arbeitszeitgesetzes zurückgreifen und sich in vielen Fällen trotzdem Flexibilität über informelle Absprachen mit ihren Vorgesetzten schaffen - ohne dafür zu haften. „Interesse haben aber durchaus auch Arbeitnehmer an mehr Flexibilisierung, wenn es zum Beispiel darum geht, in Etappen zu arbeiten und parallel Kinder zu erziehen“, gibt Fachanwalt Nebeling zu bedenken. Arbeitgeber sind unter Umständen weniger bereit zu individuellen Absprachen, solange die Rechtslage es nicht zulässt. Im Falle eines Rechtsstreits mit einem Mitarbeiter zieht der Arbeitgeber den kürzeren, wenn die Arbeitszeiten nicht korrekt waren – ganz gleich, ob das womöglich einvernehmlich geschehen ist. „Solange das Arbeitsverhältnis harmonisch ist, wird es niemanden stören. Den Arbeitgeber nicht, weil er es nicht kontrollieren kann. Der Arbeitnehmer nutzt seine zeitliche Flexibilität, um vielleicht auch mal früher nach Hause zu gehen. Ein Problem wird es dann, wenn die Harmonie nicht da ist oder wenn zum Beispiel ein Betriebsrat da ist, der einschreitet“, sagt André Kasten aus Berlin.

Wie könnte eine vernünftige Lösung aussehen?
Eine Lösung, die alle Interessen vereinbart, hat noch niemand gefunden, geschweige denn durchgesetzt. Die FDP hat es mit dem Vorschlag einer Wochenarbeitszeit versucht. Arbeitsrechtler Kasten sieht eine denkbare Lösung in Rechtsformulierungen, die Tarifparteien mehr Spielraum bei der Ausgestaltung geben. „Wesentlich ist, dass der Gesetzgeber die Grenzen zwar weiterhin klar definiert, die für den Schutz der Arbeitnehmer erforderlich sind. Andererseits muss er aber Flexibilität für eine Vielzahl von Fallgestaltungen schaffen, indem er statt starrer Vorgaben unbestimmte Rechtsbegriffe verwendet, die die Vertragsparteien selbst näher ausgestalten können“, empfiehlt er. Gleichzeitig warnt er vor zu starker Regulierung. „Man kann und sollte nicht alles regulieren. Sonst wird das Gesetz so unüberschaubar, dass keiner mehr weiß, an was er sich zu halten hat.“ Aktuell hinke das Recht den Bedürfnissen der Praxis hinterher.

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