Jobwechsel „Man kann nicht beides haben: bleiben und gehen“

Spring doch! Jede Entscheidung braucht den Mut, sich der eigenen Angst zu stellen. Quelle: imago images

Der Heidelberger Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs sagt: Am besten sind Entscheidungen, bei denen einem bewusst ist, was man mit ihnen verliert. Und bei denen man diesen Verlust bejaht.

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WirtschaftsWoche: „Ach, hätt‘ ich’s doch gemacht“ – das geht vielen Menschen durch den Kopf, wenn sie zurückblicken auf verpasste Karrierechancen, die sie eigentlich herbei gewünscht hatten und dann doch ausschlugen. Wir alle kennen solche Situationen: Die Gelegenheit ist zum Greifen nah, aber plötzlich scheut man zurück – aus Angst vor Veränderung? Vor neuen Aufgaben, denen man sich nicht gewachsen fühlt? Vor der Ungewissheit, die einen erwartet? Oder schlicht aus Trägheit, aus Lust am Aufschieben von Entscheidungen?
Thomas Fuchs: Jedem Ihrer Erklärungsvorschläge könnte ich zustimmen. Alle haben mit dem Thema der Ambivalenz, der Unsicherheit zu tun. Ambivalenz angesichts von Entscheidungen ist an sich ein ganz normaler Zustand. Sonst würde ich ja nicht groß darüber nachdenken, sondern einfach das machen, wonach mir zumute ist. Aber echte Entscheidungen sind zunächst immer Ambivalenz-Situationen: Ich bin in einer noch unschlüssigen, noch nicht eindeutig bestimmten inneren Lage und könnte der einen wie der anderen oder einer dritten Option zuneigen.

Man schwankt zwischen dem Status quo und Veränderung?
Entscheidungen setzen immer mindestens zwei Optionen voraus: Etwas-tun oder Nicht-tun. Wobei nicht zu handeln auch wieder eine Entscheidung ist. Sie sollte aber, wenn die Entscheidung denn erfolgreich vollzogen werden soll, in einen Zustand der Entschlossenheit führen, der die Ambivalenz beseitigt und gleichsam die inneren Gewichte auf die gewählte Option hin verschiebt. Wem das nicht gelingt, der bleibt trotz getroffener Entscheidung in einem Ambivalenz-Gefühl. Und dann kann es quälend werden, kann es Zerrissenheit verursachen. Dann wird eine Möglichkeit nur äußerlich verfolgt mit dem Gefühl: Ich habe das nur pro forma entschieden, eigentlich bin ich nicht wirklich dazu entschlossen gewesen.

Die Entscheidung hat sozusagen nicht den Weg vom Konjunktiv zum Indikativ gefunden, zur eindeutigen willentlichen Handlung?
Richtig, es ist beim Wunsch geblieben, und es wird sozusagen nicht das Opfer gebracht, das zu jeder Entscheidung gehört. Jede Entscheidung opfert ja eine andere Möglichkeit. Und dieses Opfer muss man spüren. Am besten sind deshalb Entscheidungen, bei denen einem bewusst ist, was man mit dieser Entscheidung auch verliert. Und wenn man diesen Verlust bejaht. Ich kann nicht beides haben, wie die Engländer beim Brexit: Bleiben und gehen.

Thomas Fuchs, Jahrgang 1958, Psychiater und Philosoph, ist Professor für philosophische Grundlagen der Psychiatrie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg. Zu seinen wichtigsten Büchern gehören „Leib und Lebenswelt. Neue philosophisch-psychiatrische Essays“ und „Das Gehirn – ein Beziehungsorgan“. Quelle: Presse

Trotzdem, wie oft hätte ich gern beides und bin deshalb unentschieden, schwankend.
Verständlich, weil jede Möglichkeit ja etwas für sich hat. Weil es Tendenzen in mir in der einen und der anderen Richtung gibt. Und sei es nur den Wunsch: Ach, ich möchte doch lieber, dass alles so bleibt, wie es ist. Dann müsste ich mich nicht so anstrengen.

Ist es nicht ein allzu menschlicher Zug, alles beim Alten zu belassen?
Sicherlich. Das sogenannte „Novelty-Seeking“, der Kick des Neuen, die Lust an der Grenzüberschreitung ist eher Sache einer Minderheit. Die meisten Menschen sind eher vorsichtig. Sie neigen dazu, gewohnte, vertraute Wege zu gehen – und meiden das Risiko. Man muss dann schon ein gehöriges Maß an Unlust am Status quo empfinden, um sich auf ungesichertes Terrain zu begeben. Aus purer Veränderungslust machen das die wenigsten.

Weil wir eher auf das schauen, was wir verlieren, als auf das, was wir gewinnen können?
Das ist ein wichtiger Punkt: Die Verlustaversion ist häufig größer als die Gewinnerwartung; die negativen Gefühle hemmen uns stärker als die positiven uns anziehen. Hinzu kommt die Vagheit der Perspektiven, bei der es oft bleibt, wenn man sich eigentlich eine Veränderung wünscht. Es ist ein Kennzeichen für viele verschobene und nicht getroffene Entscheidungen, dass die Wünsche im Ungefähren gelassen werden. Dass man gar nicht so genau hinschauen möchte, was man erreichen könnte. Warum? Weil die Angst schon in dem Moment auftreten würde, wo man sich die Alternativen wirklich klar machte. Schon diese Vagheit ist also eine Vermeidung, eine Art Eskapismus.

Worin bestehen nun die Hemmungen, die dazu führen, dass ich bei einer konkreten Möglichkeit nicht zugreife, obwohl ich doch dachte: Eigentlich habe ich mir das immer gewünscht?
Da werden Ängste wach, die einem gar nicht bewusst waren zu dem Zeitpunkt, da man sich alles nur in der bloßen Wunschform vorgestellt hat. Plötzlich treten die ganzen Konsequenzen zutage, die man vorher in seinen Phantasien wegdenken konnte. Und es werden Aspekte an einer Option erkennbar, vor denen man dann doch zurückschreckt.

„Für eine gute Entscheidung brauche ich nicht nur rationale Gründe“

Weil sie als Bedrohung erlebt werden?
Hier kommt das ins Spiel, was man Trennungsangst nennt: Ich muss mich von der mir vertrauten Lebensform verabschieden. Ich muss Ernst machen, während ich mich vorher noch meinen Tagträumen hingeben konnte: „Wie schön wäre es, wenn…“ Das, was ich habe, meine Arbeitsstelle, die Kollegen, der übellaunige Chef, das kommt mir zwar abgeschmackt vor, aber in der konkreten Situation der Entscheidung stellt sich heraus: Nun ja, ich hänge eben doch noch mehr an meinem Job, als ich zugegeben habe. Da tauchen Gefühle auf, die vorher so noch nicht spürbar waren: Angst vor Veränderung, vor Überforderung.

Gibt es Menschen, die sich generell überfordert fühlen von solchen Entscheidungssituationen?
Ja. Das sind Menschen, die vor Entscheidungen zurückschrecken, weil sie die damit verbundene Verantwortung und das damit verbundene Risiko meiden. Weil sie sich den Konsequenzen einer Entscheidung nicht gewachsen fühlen. Weil ihnen überhaupt ihre Freiheit Angst macht, die sie am liebsten wieder loswerden wollen. Lieber verstehen sie sich als Spielbälle äußerer Umstände, nur um diesem „Verdammt-Sein zur Freiheit“ aus dem Weg zu gehen, wie es Sartre einmal nannte.

Geht das ins Pathologische?
Unter Umständen ja, bei zwanghaften, perfektionistischen Menschen, die sich in Entscheidungssituationen verheddern und die Angst vor der Freiheit durch Rituale bekämpfen, in denen sie geradezu ersticken. Sie brauchen das Gefühl der Sicherheit, der Vertrautheit, der Berechenbarkeit und tun alles, damit das Leben sie nicht überraschen kann.

Gehört auch der chronische Aufschieber zu dieser Spezies?
Nicht unbedingt, Aufschieber sind eher selten zwanghaft. Aber grundsätzlich gilt: Jedes Aufschieben schwächt mich in der Fähigkeit, eine Handlung entschlossen zu dem Zeitpunkt durchzuführen, wo sie eigentlich durchgeführt werden muss. Das ist im Alltag zunächst nicht weiter schlimm. Aber je öfter ich etwas aufschiebe, desto schwieriger wird es zu sagen: So, das muss jetzt gemacht werden, und es wird dann auch gemacht. Die Prokrastination oder „Aufschieberitis“ ist freilich etwas anderes als der Handlungsaufschub, der einer Entscheidung vorausgeht.

Was geschieht bei diesem Aufschub?
In diesem vorübergehenden Aufschub liegt gerade der Spielraum der Freiheit, und hier spielt die Imagination eine große Rolle. Also die Möglichkeit, sich verschiedene Optionen vorzustellen und sie vor der Entscheidung durchzuspielen. Der Psychologe Hans Thomae spricht in diesem Zusammenhang von „Vorahmung“: Ich bewege mich seelisch und auch im körperlichen Erleben in eine Handlungsmöglichkeit hinein, zum Beispiel in einen Jobwechsel, und spüre voraus, wie das sein wird.

Auch Bauchgefühle sind dabei wichtig?
Ja. Aus den Forschungen des portugiesischen Neurologen António Damásio wissen wir, dass es beim Voraus-Empfinden und Voraus-Spüren von Entscheidungen darauf ankommt, auch auf die körperlichen Begleitgefühle zu achten. Rein kognitiv-rationale Prozesse, etwa die Frage „Was ist mein objektiver Vorteil?“ können unter Umständen sogar im Weg stehen, wenn es darum geht herauszufinden, was wirklich zu mir passt. Für eine gute Entscheidung brauche ich nicht nur rationale Gründe, sondern auch gespürte Motive, Tendenzen, Wünsche, Gefühle. Je besser sie wahrgenommen werden, desto integrativer und erfolgreicher wird der Entscheidungsprozess ablaufen. Der schließt dann freilich auch Überlegungen ein.

Man muss körperlich-seelisch-kognitiv spüren, ob einem wohl ist bei einer Entscheidung?
Richtig. Und wenn dieses Kongruenzempfinden, wie ich es nenne, sich einstellt, wenn also Kopf, Herz und Bauch übereinstimmen und ich merke, wie sich das verdichtet bei einer meiner Optionen, dann stellt sich ein warmes, stimmiges Gefühl ein, dann bin ich auf dem richtigen Weg. Trotzdem, auch dann muss ich an einem Punkt sagen: Jetzt ist es gut, jetzt kommt der eigentliche Entschluss. Und der ist eben letztlich der Willensentschluss: So. Das mache ich mir zu eigen. Damit identifiziere ich mich jetzt.

Warum ist das so bedeutsam?
Weil aus dieser Entschlossenheit wichtige Energien für die eigentliche Verwirklichung der Entscheidung freiwerden. Natürlich: Je besser diese Entscheidung zu meinen Motiven, meinen Gefühlen und Empfindungen passt, desto leichter wird es mir fallen, sie umzusetzen. Aber es ist nun mal bei den meisten Entscheidungen immer so, dass sie auch auf Einwände treffen, auf innere und äußere Widerstände. Man merkt: Naja, so ganz einfach ist es doch nicht. Und dann, bei solchen Widerständen, spielt die Entschlusskraft, die sogenannte Willensstärke, eben doch eine maßgebliche Rolle.

„Das Leben kennt keine Generalprobe, es ist immer schon die Aufführung“

Was ist mit demjenigen, der eine Wechselchance hat, alle Möglichkeiten durchspielt und dann doch zurückschreckt und die Qualitäten seiner gegenwärtigen Misere entdeckt?
Der ist von Ängstlichkeit getrieben. Das Herz sinkt ihm im letzten Moment in die Hose. Das hat viel mit „Charakter“ zu tun: Entscheidungen zu treffen und für Entscheidungen einzustehen, ist etwas, was geübt werden muss, von früher Kindheit an. Menschen, die nicht gut entscheiden können, sind häufig Menschen, denen die Eltern das Entscheiden abgenommen haben…  

…und enden dann als willensschwache Versager?
Ja, man kann durch wiederholte Entschlusslosigkeit die Entscheidungsschwäche immer weiter steigern. Bis man sich irgendwann das Entscheiden gar nicht mehr zutraut. Es gibt Menschen, die bei der geringsten Entscheidungssituation furchtbar in Unsicherheit geraten und ahnen: Ich werde hinterher nicht mehr genau wissen, was ich eigentlich wollte.

Die nehmen das Scheitern voraus.
Genau.

Und verzeihen sich ihre Unfähigkeit nicht. Daraus ergibt sich eine andere Frage: Warum bereuen wir unser Nicht-Handeln stärker als vollzogene Handlungen?
Weil beim Nicht-Handeln, trotz einer bestehenden Möglichkeit, ein irgendwie schales Gefühl zurückbleibt. Man spürt: Ich hab‘ mich dann doch nicht getraut. Oder ich war dann doch zu bequem. Und eine beherzte Nicht-Entscheidung zu treffen, ist gar nicht so einfach. Beherzt im Sinne von: Ach, das muss jetzt wirklich nicht sein, darauf kann ich gut verzichten. Sehr viel häufiger ist eine gewisse Unentschlossenheit. Und im Rückblick erinnert man sich an sein mangelndes Selbstvertrauen und weiß: „Da bin ich ein bisschen feige gewesen.“ Das hinterlässt natürlich kein gutes Selbstgefühl. Die Entschlossenheit dagegen vermittelt immer ein gutes Gefühl: Ich hab’s ja gewagt.

Es war Benjamin Franklin, der sinngemäß gesagt hat: „Nicht-Entscheidungen sind schlimmer als Fehlentscheidungen.“ Wie kommt man mit den vertanen Chancen im Rückblick zurecht?
Nicht getroffene, versäumte Möglichkeiten können einem ganz schön zu schaffen machen im späteren Leben. Und sich damit zu versöhnen ist eine eigene, schwierige Aufgabe. Ein gewisser Trost kann darin liegen, dass Perfektion, Vollkommenheit der Lebensführung dem Menschen nun einmal nicht gegeben ist. Das Leben kennt keine Generalprobe, es ist immer schon die Aufführung. Das heißt, dass man auch Entscheidungen trifft oder nicht trifft, die man später bereut. Einer der wichtigsten Ratschläge kann hier nur heißen, das in den Blick zu nehmen, was noch vor einem liegt. Jedes bedauernde Zurückwenden wird irgendwann an den Punkt kommen, wo Reue dysfunktional wird, wo sie nur noch hemmt und noch unglücklicher macht.

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    Sie glauben, man kann sich mit wichtigen, verpassten Gelegenheiten versöhnen, auch wenn die Lebensbilanz negativ ausfällt?
    Ja, es gibt immer eine Versöhnungsmöglichkeit, davon bin ich fest überzeugt. Bilanzen sind nie endgültig, denn sie hängen von Bewertungen ab, die wir in der aktuellen Situation, unter dem Gesichtspunkt unserer jetzigen Verfassung heraus vornehmen. Es gibt diesen etwas flapsigen Spruch: „Es ist nie zu spät, eine gute Kindheit gehabt zu haben.“ Anders gesagt: Bewertungen und Einschätzungen, die wir im Rückblick auf Lebensphasen oder unser bisheriges Leben vornehmen, sind immer veränderbar. Nicht in dem Sinne, dass man die Dinge beschönigt oder sie sich zurechtlügt, sondern dass man sie noch einmal unter einem anderen, integrierenden Gesichtspunkt sieht und sagt: Ja, das gehört auch zu meinem Leben. Auch die Dinge, die mir nicht gelungen sind, nehme ich mit hinein. Das ist immer möglich.

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