Den ersten Paukenschlag erlebte er direkt im Jahr seines Dienstantritts: Als Sven Paaschburg 2004 seinen neuen Job bei einem Mittelständler antrat, machten dessen Mitarbeiter bundesweit Schlagzeilen. Um einen Standort zu erhalten, erklärte sich die Belegschaft dazu bereit, künftig wöchentlich 40 statt der im Tarifvertrag vereinbarten 35 Stunden zu arbeiten – ohne Lohnausgleich. Damit sicherten die Angestellten dem Unternehmen eine Zehn-Millionen-Euro-Investition der Muttergesellschaft.
Paaschburg selbst startete mit Schwung in den neuen Job: Er übernahm die Leitung eines Teams von 25 Mitarbeitern, engagierte sich in Projekten, tüftelte über Strategien, machte Überstunden, verdiente gutes Geld.
Nach seiner Elektrikerlehre hatte er parallel zu seiner damaligen Stelle Betriebswirtschaftslehre studiert und erfolgreich abgeschlossen. Diese Mühen schienen sich nun auszuzahlen – bis Ende 2010 der Schock kam: Paaschburg wurde betriebsbedingt gekündigt. Nach insgesamt 19 Jahren im Unternehmensverbund, davon die letzten sechs als Teamleiter, stand er mit 43 Jahren plötzlich auf der Straße.
Eine Situation, die für ihn nicht nur ungewohnt war, sondern auch existenziell – Paaschburg hatte eine Frau und zwei kleine Kinder zu ernähren.
Auf dem Prüfstand
Raus mit Mitte 40 – eine Erfahrung, die Paaschburg jüngst mit vielen anderen Managern teilte: Erst jahrelang Woche für Woche 60, 70, 80 Stunden arbeiten, bis spät abends im Büro sitzen oder auf Dienstreisen unterwegs sein, Mitarbeiter instruieren, Projekte planen, Strategien aushecken – um dieses Engagement plötzlich von 100 auf null zurückfahren zu müssen, weil der Arbeitgeber die Stelle gestrichen hat. Die Abfindung erscheint höchstens auf den ersten Blick üppig, spätestens nach Abzug der Steuer wird klar: Auf Dauer reicht das Geld nicht mehr für Zweitwagen und Skiurlaub, die Raten fürs Häuschen und die Ausbildung der Kinder.
Gedanken, die sich auch in den kommenden Monaten viele Angestellte machen müssen. Zahlreiche Unternehmen haben bereits umfangreiche Stellenstreichungen angekündigt, quer durch alle Branchen und Hierarchieebenen. Nicht nur einzelne Positionen, sondern ganze Abteilungen stehen auf dem Prüfstand.
Allgemeiner Stellenabbau
Die Deutsche Bank will sich in den kommenden Monaten von jeder zehnten Stelle im Investmentbanking trennen, Landesbanken wie die HSH streichen Abteilungen zusammen oder setzen sie gleich komplett auf die Straße. Der Düsseldorfer Energiekonzern E.On verkündete bereits im Sommer, dass er etwa 11.000 Mitarbeiter freistellt, vor wenigen Wochen meldete Konkurrent RWE, sich von 8.000 Mitarbeitern trennen zu wollen. Nokia Siemens Networks will seine Belegschaft in Deutschland bis Ende 2013 um 3.000 Positionen verringern, auch der Anlagenbauer Ferrostaal und der Biotechkonzern Qiagen trennen sich von Mitarbeitern. Nicht nur von einfachen Arbeitern oder Angestellten auf unteren Hierarchieebenen – sondern auch von Führungskräften.
Die Ängste der Deutschen
Viele von ihnen dürften gerade mit großen Sorgen aus dem Weihnachtsurlaub zurückgekehrt sein, denn nichts beunruhigt die Deutschen so sehr wie ihre finanzielle Situation. Als das Meinungsforschungsinstitut Ipsos im Dezember 2010 1.000 Deutsche im Alter zwischen 18 und 64 nach ihren größten Sorgen fragte, landete Arbeitslosigkeit mit 34 Prozent auf Platz zwei. Mehr Angst jagen den Deutschen nur noch Armut und soziale Ungerechtigkeit ein.
Präsentismus aus Angst vor Abstieg
Die Folge: Viele Menschen arbeiten sprichwörtlich, bis der Arzt kommt. Aus Angst vor beruflichem Abstieg gehen immer mehr Menschen gesundheitlich angeschlagen zur Arbeit. Präsentismus nennen Wissenschaftler dieses Phänomen – in Deutschland gilt das fast für jeden zweiten Arbeitnehmer, ergab der Gesundheitsmonitor der Bertelsmann Stiftung im September 2009. 42 Prozent sagten damals, dass sie in den zurückliegenden zwölf Monaten mindestens zweimal krank ins Büro oder an die Werkbank gegangen seien.
Eine Studie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin resümierte erst im März: Jeder vierte Befragte macht das aus Angst vor beruflichen Nachteilen.
Bei deutschen Managern ist dieses Verhalten besonders weit verbreitet. Der Personaldienstleister Robert Half befragte kürzlich etwa 6.000 Personal- und Finanzmanager in 20 Ländern. Fazit: In kaum einem anderen Land kommt Präsentismus in der Chefetage so häufig vor wie in Deutschland. 55 Prozent der deutschen Fachkräfte schleppen sich auch dann ins Büro, wenn die Nase trieft, der Hals kratzt oder der Rücken weh tut.
Um in den kommenden Wochen möglicherweise schmerzhaft festzustellen: Egal, wie sehr du dich in den vergangenen Jahren engagiert hast – in Zukunft geht es auch ohne dich.
Betreuung nach der Kündigung
„Bei erfolgreichen Führungskräften mit glattem Karriereverlauf ist die Erschütterung, die durch eine Entlassung ausgelöst wird, besonders groß“, sagt Heike Cohausz von P4 Career Consultants. Sie hat in den vergangenen Jahren Dutzende von Managern als Outplacement-Beraterin betreut. Cohausz wird immer dann gerufen, wenn Führungskräfte entlassen werden – um mit ihnen gemeinsam die nächsten Karriereschritte zu planen.
Das fällt vielen Betroffenen erst mal schwer – denn Scheitern kannten sie bislang nicht, das Selbstbewusstsein knickt ein. Was macht das mit einem Menschen?
Andreas Rades kann diese Frage leicht beantworten. Der Wirtschaftsinformatiker arbeitet seit etwa 25 Jahren in der IT-Branche, zuletzt war er beim Düsseldorfer Beratungshaus Emprise Consulting zuständig für ein Team von 60 Mitarbeitern.
Als Rades dort 1999 anfing, erlebte der Neue Markt gerade seine Boomphase. In seinen besten Zeiten erwirtschaftete Rades jährlich einen Umsatz von zehn Millionen Euro. Firmenfeiern für die 200 Mitarbeiter fanden auf Mallorca statt, Rades fuhr als Dienstwagen einen Audi A6.
Heute fährt er einen sieben Jahre alten VW Touran.
Entlassung im Briefkasten
Den Beginn seiner neuen Bescheidenheit markierte ein Tag im Jahr 2007. Rades war gerade mit Frau und drei Kindern im Spanienurlaub, als das Telefon klingelte. Ein Mitarbeiter warnte ihn vor, dass die Sekretärin gerade seine Entlassung in den Briefkasten werfe. In dem Brief stand, dass er fristlos gekündigt sei und sich am nächsten Arbeitstag bei der Geschäftsführung melden solle.
Den Niedergang der Firma hatte Rades zwar schon seit einiger Zeit kommen sehen – der Börsenhype und der Zwang, das Geld der Investoren zu vermehren, erhöhten den Umsatzdruck, die Margen sanken, die Kosten für Gehälter und Zinsen stiegen. Es war klar, dass Entlassungen irgendwann unvermeidbar sein würden.
Bloß: Dass es ihn treffen würde, damit hatte Rades nicht gerechnet. Erst recht nicht im Urlaub. Und schon gar nicht, dass er sich mit seinem Arbeitgeber eines Tages vor Gericht treffen würde.
Dort konnte Rades mithilfe seines Anwalts die fristlose Kündigung in eine fristgerechte umwandeln. Er erhielt eine Abfindung plus drei Monatsgehälter. Ende März 2008 verließ er das Unternehmen endgültig, zuvor war er drei Monate lang freigestellt. Drei Monate, in denen sich Rades eine Frage stellte: Wie soll es weitergehen?
Seine Antwort: Er machte sich selbstständig. Bereits wenige Monate nach seiner Entlassung gründete er mit zwei Freunden das Unternehmen NGN-Europe.
Die IT-Beratungsfirma sucht Spezialisten für andere Unternehmen, die einen Dienstleister, einzelne Entwickler oder gleich ein ganzes Projektteam brauchen. Kürzlich kam etwa ein spanisches Unternehmen auf ihn zu, das 100 IT-Fachkräfte nach Deutschland vermitteln will. Derzeit durchforstet Rades seine Datenbank nach geeigneten Partnern.
Neue Bescheidenheit
Was er durch die Kündigung gelernt hat? Vor allem Bescheidenheit. Rades will nicht verheimlichen, dass es anfangs erhebliche Startschwierigkeiten gab. Nach der Gründung lebten er und seine Familie ein knappes Jahr von Ersparnissen. Inzwischen läuft das Geschäft jedoch gut, im vergangenen Jahr knackte er erstmals die Umsatzgrenze von 200.000 Euro.
Zum anderen weiß er nun, dass es sinnvoll ist, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Eine Rolle, an die sich viele Manager nach der Kündigung erst mal gewöhnen müssen. Bislang fragte man sie um Rat und Tat, jetzt müssen sie andere um Unterstützung bitten. Rades bekam Hilfe von der Gründungsberatung der Düsseldorfer Wirtschaftsförderung. Dort traf er sich mehrmals mit einem Coach, der ihm bei der Umsetzung des Businessplans half. „Natürlich war die Entlassung unschön“, sagt Rades, „aber ich hatte Glück im Unglück.“
Jobverlust als Niederlage
So wie Markus Rentsch. Der heute 47-Jährige erhielt seine Kündigung im Frühjahr 2009. Damals arbeitete er als Vertriebsleiter bei einem Großkonzern, verhandelte mit seinem Chef gerade über seine variablen Gehaltsbestandteile – bis dieser ihm zum Ende des Gesprächs mitteilte, künftig ohne ihn zu planen.
Rentsch heißt eigentlich anders, will seinen wahren Namen aber nicht in der Öffentlichkeit lesen – auch, weil er sich durch die Entlassung lange stigmatisiert fühlte.
So wie er empfinden viele gekündigte Führungskräfte ihren Jobverlust als Niederlage, über die sie nicht öffentlich sprechen wollen. Selbst dann, wenn sie wie Rentsch inzwischen wieder eine feste Stelle gefunden haben – und andere Manager, denen es ähnlich ergeht, daraus eine Menge lernen können.
Nächster Schritt: Karriereplanung
Zum Beispiel, dass in der Ruhe in der Tat die sprichwörtliche Kraft liegen kann. Rentsch nahm sich nach seiner Entlassung viel Zeit, eine neue Stelle zu suchen. Das konnte er sich leisten, weil er ein Jahr lang bei vollen Bezügen freigestellt war. Gemeinsam mit seinem Outplacement-Berater plante Rentsch wohlüberlegt den nächsten Karriereschritt.
Mithilfe seines Coaches analysierte Rentsch seine Stärken und Schwächen. Dadurch stellte er fest, dass er auch jetzt nicht den Sprung in die Selbstständigkeit wagen wollte. Sondern lieber erneut eine Führungsposition in einem Unternehmen anstrebte. Außerdem kontaktierte er Freunde und Bekannte, streckte die Fühler in verschiedene Richtungen aus.
Das berühmte Vitamin B – es ist noch immer ein Pfund, mit dem sich bei der Jobsuche wuchern lässt. Etwa jede vierte Neubesetzung im Jahr 2010 basierte auf persönlichen Kontakten, ergab erst kürzlich eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Das half auch Markus Rentsch: Über einen ehemaligen Kollegen erfuhr er, dass ein Unternehmen aus der Medizintechnik gerade einen neuen Deutschland-Geschäftsführer suchte.
Mit Offenheit trumpfen
Als er sich erstmals mit den Verantwortlichen traf, ging er mit seiner Kündigung offen um – und machte deutlich, dass er seine Entlassung nicht selbst verschuldet oder schlechte Arbeit abgeliefert hatte.
Etwas anderes als gnadenlose Offenheit bleibt Betroffenen auch nicht übrig, Managern schon gar nicht. Wer sich für eine leitende Funktion bewirbt, wird von seinem potenziellen Arbeitgeber vorab sorgfältig durchleuchtet. Wer es im Bewerbungsgespräch mit der Wahrheit nicht so genau nimmt, ruiniert seinen Ruf nachhaltig. Wer hinterher auffliegt – und das ist die Regel –, riskiert durch den Täuschungsversuch gar eine fristlose Kündigung.
Mehr Verantwortung
Rentschs neuer Arbeitgeber hielt sich nicht lange mit dessen Kündigung auf. Ihn interessierten weniger die Ereignisse der Vergangenheit, sondern vor allem, ob Rentsch für den ausgeschriebenen Job taugte und was er in Zukunft für das Unternehmen würde leisten können. Ein paar Wochen später hatte Rentsch die Stelle. Jetzt hat nicht er nur einen verantwortungsvolleren Posten als vorher, sondern verdient auch mehr: „Im Nachhinein habe ich von der Kündigung sogar profitiert.“
Ausdauer bei der Jobsuche macht sich bezahlt
Kein Einzelfall: „Es dauert manchmal bis zu einem Jahr, bis diese Leute wieder was Adäquates finden“, bestätigt der Düsseldorfer Personalberater Manfred Siebenlist. „Dann schaffen sie es aber oft in bessere Positionen als vorher.“
Auf eine rosa Zukunft hofft Sven Paaschburg ebenfalls. Der 44-Jährige hatte nach seiner Entlassung zunächst überlegt, sich als Unternehmensberater selbstständig zu machen. Doch über seinen Outplacement-Berater kam er in Kontakt zum Franchisenetzwerk Mail Boxes Etc. (MBE). In den Filialen können die Kunden Pakete verschicken oder Dokumente drucken lassen. Etwa 170 Niederlassungen hat MBE derzeit deutschlandweit. Vor wenigen Tagen ist noch eine dazugekommen – die von Sven Paaschburg in Hamburg.
Wer arbeiten will, findet Arbeit
Mit einer Mitarbeiterin wagt er den Sprung in die Selbstständigkeit. In den zurückliegenden Monaten schrieb er einen Businessplan, sprach mit Gründungsberatern, ließ sich von einem Outplacement-Berater coachen. Paaschburg fühlt sich gut vorbereitetet für die Selbstständigkeit, die Gründung eines eigenen Unternehmens ist für ihn kein Notnagel. Spätestens in drei Jahren will er Bilanz ziehen und sehen, ob sich das Geschäft für ihn rechnet.
„Natürlich war es ungewohnt, sich nach einer so langen Zeit wieder umorientieren zu müssen“, sagt Paaschburg. „Aber erstens stecke ich den Kopf nicht in den Sand. Und zweitens glaube ich fest daran: Wer arbeiten will, der findet auch Arbeit.“