Endlich frei! Wirklich etwas bewegen – und eigene Ideen verwirklichen. Jörg Bienert hatte sofort ein gutes Gefühl, als er vor 13 Jahren seinen Vorstandsjob aufgab. Knapp 15 Jahre hatte er als Angestellter gearbeitet, zuletzt beim deutschen Ableger eines schwedischen IT-Dienstleisters. Dann machte er sich selbstständig. „Das Web 2.0 kam gerade auf“, sagt Bienert heute, „es gab so viele neue Möglichkeiten.“
Zunächst arbeitete er als freier Unternehmensberater, im Jahr 2007 gründete er sein erstes Start-up – im Alter von 41. Bereut hat er das nie, im Gegenteil.
Bienert startete in Köln zunächst Empulse, heute ein Dienstleister für Onlineportale, und 2011 schließlich Parstream. Das Unternehmen entwickelte eine Technologie zur schnellen Analyse von Daten, die beispielsweise in Windräder oder andere Anlagen integriert werden kann. Mit dieser Idee sammelte Bienert im Silicon Valley innerhalb von einem Jahr Wagniskapital in Höhe von fast 13 Millionen Euro – für deutsche Start-ups eine mittelgroße Sensation. Die noch größere, zumindest für Bienert persönlich, kam Ende 2015: Da kaufte der US-Techkonzern Cisco das Kölner Start-up.
Für Bienert hat es sich gelohnt, in der Lebensmitte noch einmal mutig zu sein – und den sicheren Angestelltenjob gegen die unsichere Selbstständigkeit zu tauschen.
Finanzierungen: Die größten Deals 2017
Das Berliner Musikportal lancierte erst 2016 einen Bezahldienst, verliert aber weiterhin Geld. Im März erhielt Soundcloud umgerechnet 65,7 Millionen Euro. Das Geld kommt unter anderem von Investoren aus den USA und Großbritannien.
Fast 50 Millionen Euro sammelte das Berliner Forschernetzwerk Researchgate ein, wurde in diesem Jahr bekannt. Die Stiftung von Bill Gates erhöhte ihre Anteile.
Anfang März erhielt Breath Therapeutics 43,5 Millionen Euro von Risikokapitalgebern aus Kalifornien, Belgien und den Niederlanden. Das Spin-off von Pari Pharma aus Starnberg arbeitet an einer Therapie gegen eine tödliche Lungenkrankheit.
Das Berliner Fintech sucht für private Sparer das beste Zinsangebot. Dabei profitiert es von den Zinsunterschieden in Europa. Bislang vermittelte Weltsparen mehr als drei Milliarden Euro an Spargeldern. Nun will es zur ersten Anlaufstelle für Sparer und Anleger in Europa werden. Die Investoren glauben daran: Sie verdoppelten im Januar das Eigenkapital und gaben dem Gründer und CEO Tamaz Georgadze weitere 30 Millionen Euro.
Ende 2015 ist die Solarisbank angetreten, um den App Store für die Finanzwelt zu bauen. Das Konzept kommt bei Investoren an: Im ersten Jahr nahm das Berliner Start-up zwölf Millionen Euro ein. Schon jetzt beschäftigt es 85 Mitarbeiter in sechs Ländern. Im März beteiligten sich Investoren mit 26,3 Millionen Euro, darunter die japanische SBI Group. Die Solarisbank will bald auch in Asien starten.
Mythos Jugendwahn
Es gibt kaum einen Beruf, der derzeit so viel diskutiert wird wie das Gründen eines Start-ups. Gleichzeitig kursiert eine Reihe von Mythen über die Szene. Eines der gängigsten lautet, dass Gründer meist jung sind, Mark Zuckerberg ist der Prototyp dieses Klischees. Der Facebook-Chef gründete sein Unternehmen mit 19 und brach sein Harvard-Studium ab, um vier Jahre später jüngster Selfmade-Milliardär der Welt zu werden. Fortan galt er als Ikone einer neuen Generation von Gründern, deren Jugendlichkeit scheinbar der entscheidende Wettbewerbsvorteil ist.
Aber wie das nun mal so ist mit Klischees: Es lassen sich zwar Belege dafür finden, warum sie stimmen könnten. Doch die Realität sieht anders aus.
So sieht der deutsche Start-up-Markt aus
Startups sind per Definition des Deutschen Start-up-Monitors (DSM) jünger als zehn Jahre und zeichnen sich durch "ein signifikantes Mitarbeiter- und/oder Umsatzwachstum" aus. Wer einen Kiosk eröffnet, hat demnach kein Start-up gegründet, sondern eine sogenannte Existenzgründung. Und wer ein Schuhgeschäft mit drei Angestellten aufmacht, betreibt ein kleines, mittelständisches Unternehmen (KMU) und kein Start-up.
Quelle: Deutscher Start-up-Monitor vom Bundesverband Deutsche Startups e.V. (BVDS) und KPMG in Deutschland
Das dritte Kriterium, woran man ein Start-up erkennt: die Gründer sind mit ihrer Technologie und/oder ihrem Geschäftsmodell (hoch) innovativ. "Gründerinnen und Gründer sind voller Ideen und voller Begeisterung. Sie entwickeln aus Problemlösungen Geschäftsmodelle. Gründungen sind Lebenselixier für unsere Wirtschaft und Motor des strukturellen Wandels. Denn kreative Ideen und innovative Geschäftsmodelle modernisieren unsere Wirtschaftsstruktur, erhöhen die Wettbewerbsfähigkeit und schaffen neue Arbeitsplätze", sagte Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) in seinem Grußwort zum aktuellen DSM.
Die meisten Start-ups finden sich in der Rhein-Ruhr-Region, in und um München, in der Region Karlsruhe/Stauttgart, im Raum Hamburg, in und um Frankfurt am Main - und natürlich in Berlin: Auf 1.000 erwerbsfähige Berliner kommen 26 Gründer - so viele wie nirgendwo sonst in Deutschland.
Laut dem European Startup Monitor arbeiten inklusive der Gründer 12,9 Menschen in einem durchschnittlichen europäischen Startup. In Deutschland ist die Zahl der Mitarbeiter überdurchschnittlich hoch: Hier sollen Startups im Schnitt über 15 Mitarbeiter verfügen – ohne die Gründer mitzurechnen.
Knapp zehn Prozent der Gründerinnen und Gründer von Startups und 22 Prozent der Beschäftigten in Startups kommen aus dem Ausland. Rund 13 Prozent der Gründer in Deutschland sind Frauen.
Nach Angaben der KfW ist jeder dritte Gründer in Deutschland älter als 45. Zwar umfasst die Statistik nicht nur hippe Start-ups, sondern auch die vermeintlich biedere Old Economy: Anwaltskanzleien, Pflegedienste oder Restaurants. Doch immerhin 15 Prozent der über 45-jährigen Gründer waren laut KfW mit digitalen Geschäftsmodellen aktiv.
Und der Deutsche Startup-Monitor, eine Befragung von etwa 1200 Start-ups, stellt fest: Der Altersdurchschnitt steigt sogar. Im Jahr 2013 waren noch weniger als zehn Prozent der Gründer älter als 45. Im vergangenen Jahr waren es bereits fast 20 Prozent.
Aber warum trauen sich manche Menschen, ihre sichere Festanstellung gegen eine riskante Selbstständigkeit zu tauschen – noch dazu in einem Alter, in dem die Kinder noch nicht aus dem Haus sind, Letzteres aber abbezahlt werden will? Was erleben jene, die den Schritt wagen – und warum gehen Forscher inzwischen davon aus, dass ältere Gründer durchaus Vorteile haben? Ist der Jugendwahn der Gründerszene womöglich eine Illusion?
Ideen aus Erfahrung
Vivek Wadhwa hat es weit gebracht. Zur Welt kam er in Indien, von dort wanderte er mit seinen Eltern in die USA aus. Dort gründete er mehrere Softwarefirmen, heute hat er Lehraufträge an den amerikanischen Universitäten Carnegie Mellon und Duke. Dort beschäftigt er sich unter anderem mit der Frage, was Gründer erfolgreich macht. Für eine Studie im Jahr 2009 befragte er 549 US-Entrepreneure aus zwölf verschiedenen Branchen: 75 Prozent hatten zuvor mindestens sechs Jahre Berufserfahrung als Angestellte gesammelt, jeder zehnte sogar mehr als 20.
Erfahrung kommt nun mal mit dem Alter
Wadhwa hat aus seiner Umfrage eine Formel abgeleitet, die den Erfolg des Alters erklären könnte: „Ideen entstehen aus Bedürfnissen. Um Bedürfnisse zu verstehen, braucht man Erfahrung – und die kommt im Alter.“ Auch Parstream-Gründer Jörg Bienert fühlte sich erst durch seine Lebens- und Führungsverantwortung bereit für ein eigenes Unternehmen: „Eine Gründung direkt nach dem Studium hätte ich mir nicht vorstellen können.“
Ein solches Maß an Reflexion ist nicht nur sympathisch, sondern auch nützlich. Tatsächlich lassen einige Studien vermuten: Je älter jemand ist, desto selbstbewusster schätzt er die eigenen Fähigkeiten ein. Beispielsweise gaben in einer Befragung der HypoVereinsbank unter 248 Gründerinnen mehr als die Hälfte der über 40-Jährigen an, gut verhandeln und überzeugen zu können. Unter den Jüngeren war es nur jede Dritte.
So denkt die Welt über Selbstständigkeit
Für den Amway Entrepreneurial Spirit Index (AESI) 2016 haben das Konsumgüterunternehmen Amway, die Technische Universität München und die GfK (Gesellschaft für Konsumforschung) 50.861 Männer und Frauen aus 44 Ländern dazu befragt, wie erwünscht es in ihrem Heimatland ist, Unternehmen zu gründen, wie leicht es ist, sich selbstständig zu machen und wie es um die Stabilität gegen sozialen Druck bestellt ist. 100 Punkte sind zu erreichen.
Das Resultat: 56 Prozent aller Befragten weltweit erachten die Gründung eines Unternehmens als erstrebenswert. 46 Prozent sind der Meinung, sie besäßen die notwendigen Voraussetzungen dafür. 49 Prozent würden sich nicht davon abhalten lassen, wenn ihnen ihre Familie oder Freunde davon abraten.
47 Prozent der Befragten in der EU erachten eine Unternehmensgründung als erstrebenswert. 40 Prozent sehen sich dazu in der Lage und 48 Prozent würden sich nicht davon abbringen lassen.
35 Prozent der befragten Männer halten eine Selbständigkeit für wünschenswert und 38 Prozent glauben auch, aus der Idee ein erfolgreiches Unternehmen machen zu können. 43 Prozent sind außerdem überzeugt, sich auch gegen Widerspruch aus dem sozialen Umfeld durchsetzen zu können. Bei den Frauen halten 27 Prozent die Selbständigkeit für erstrebenswert. Dass es mit dem eigenen Unternehmen klappen kann, glauben 26 Prozent. 37 Prozent sagen, dass sie im Zweifelsfall auf die Meinung von Freunden und Familie pfeifen und trotzdem gründen würden.
Junge Menschen wollen gründen, ältere wünschen sich einen sicheren Job: Jedenfalls nimmt die Zahl derer, die eine Selbständigkeit als wünschenswert betrachten, mit zunehmendem Alter deutlich ab. In der Altersgruppe jenseits der 50 halten nur noch 21 Prozent eine Unternehmensgründung für eine gute Idee. Bei den Befragten unter 35 Jahren waren es 43 Prozent, in der Altersgruppe der 35- bis 49-Jährigen 37 Prozent. Dafür ist das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten in der Gruppe der 35 bis 49-Jährigen am stärksten und sie scheinen am stabilsten gegen sozialen Druck zu sein.
Akademiker interessieren sich eher für eine Selbstständigkeit als Menschen ohne Uniabschluss. So halten 34 Prozent der Uniabsolventen die Gründung eines Unternehmens für erstrebenswert, in der Vergleichsgruppe sind es 31 Prozent.
Befragte mit Abschluss verfügen außerdem über ein sehr viel höheres Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten als Befragte ohne Abschluss. Hinsichtlich der Stabilität gegenüber sozialem Druck sind Absolventen ebenfalls deutlich positiver als Nicht-Absolventen.
31 Prozent der Befragten halten die Gründung eines Unternehmens für erstrebenswert (2015: 26 Prozent). 32 Prozent der deutschen Befragten glauben, dass sie auf eine Gründung gut vorbereitet wären (2015: 29 Prozent). 40 Prozent sind der Meinung, dass sie sich von einer Unternehmensgründung nicht abhalten ließen, wenn ihre Familie oder Freunde sie davon abbringen wollten (2015: 38 Prozent).
Insgesamt sind 63 Prozent aller befragten Deutschen Unternehmensgründungen gegenüber positiv eingestellt. Im internationalen Vergleich landen die Deutschen damit auf Platz 40 - von 44.
Mehr als jeder zweite befragte Taiwanese (52 Prozent), hält es für erstrebenswert, ein eigenes Unternehmen zu gründen. Noch deutlich mehr, nämlich 88 Prozent, finden es gut, wenn andere den Mut haben, sich selbstständig zu machen. Was die Offenheit gegenüber Gründern und start-ups angeht, landet Taiwan damit auf Platz zehn im internationalen Vergleich.
88 Prozent der befragten Schweizer finden es gut, wenn sich andere selbstständig machen. 45 Prozent halten es für wünschenswert, sich selbst einmal aufs unternehmerische Parkett zu wagen.
43 Prozent der befragten Kanadier können sich vorstellen, sich selbstständig zu machen. 88 Proozent der Befragten sind Unternehmensgründungen gegenüber positiv eingestellt.
In Kolumbien ist der Gründergeist weltweit am höchsten: 80 Prozent der Befragten können sich gut vorstellen, sich selbstständig zu machen. 89 Prozent sind Unternehmensgründungen gegenüber positiv eingestellt. Im internationalen Vergleich macht das Platz sieben.
Selbst die Esten sind gründerfreundlicher als die Deutschen: 91 Prozent der befragten Einwohner Estlands sind Start-ups gegenüber aufgeschlossen, 48 Prozent können sich vorstellen, selbst zu gründen.
In Mexiko ist die Bereitschaft, sich selbstständig zu machen, weltweit am zweithöchsten: 73 Prozent der befragten Mexikaner können sich vorstellen, zu gründen. 92 Prozent sind Unternehmensgründungen gegenüber positiv eingestellt. Das beschert Mexiko Platz fünf bei der Gründerfreundlichkeit.
Schweden belegt in punkto Aufgeschlossenheit gegenüber Gründern Platz vier im internationalen Vergleich: 93 Prozent der Schweden sind jungen Unternehmen gegenüber positiv eingestellt. 51 Prozent denken darüber nach, sich selbst als Unternehmer zu versuchen.
Auf Platz drei der gründerfreundlichsten Nationen liegt Dänemark: 94 Prozent der Befragten finden es gut, wenn sich andere selbstständig machen. 40 Prozent können sich vorstellen, selbst einmal ein Unternehmen zu gründen.
Auch in Vietnam sind die Menschen Gründern gegenüber aufgeschlossen: 95 Prozent stehen Start-ups positiv gegenüber, 58 Prozent könnten sihc eine Selbstständigkeit vorstellen.
Das gründerfreundlichste Völkchen sind die Norweger. Hier können sich zwar nur 36 Prozent vorstellen, einmal ein eigenes Unternehmen ins Leben zu rufen. Dass sich andere selbstständig machen, finden dafür 99 Prozent der Befragten gut.
Faktor Netzwerk
Andere Untersuchungen lassen vermuten, dass Unternehmen von älteren Gründern tatsächlich erfolgreicher sind. Ein Forscherteam um den Portugiesen Rui Baptista resümierte im Jahr 2013, dass Gründer, die zu Beginn älter als 50 waren, sich eher am Markt halten als die unter 30-Jährigen – und zwar unabhängig von vorheriger Arbeits-, Branchen- und Führungserfahrung. Experten vermuten, dass das persönliche Netzwerk ein entscheidender Faktor ist – denn jenes ist im Alter tendenziell größer.
Davon profitiert derzeit auch Christine Deger. Die 54-jährige Stuttgarterin baut gerade eine Beratung für Cybersicherheit auf. Zuvor arbeitete die Kauffrau in verschiedenen Branchen. Zunächst in der Verwaltung einer Diakonie, dann in einem Unternehmen für Versicherungsinformatik, danach bei einem Softwarehersteller, wo sie zuletzt die Entwicklungsabteilung leitete. In dieser Zeit hat sie viele Kontakte aufgebaut, was ihr nun zugutekommt: „Meine ersten Aufträge kamen aus diesem Netzwerk.“
Auch die Kundenakquise fällt Unternehmern mit Berufs- und Lebenserfahrung leichter – vor allem, wenn sie sich ebenfalls an Unternehmen richten und nicht an Privatpersonen. Das bestätigt auch eine Umfrage des RKW Kompetenzzentrums aus dem vergangenen September unter 175 kleinen und mittleren Unternehmen: Mehr als die Hälfte sagte, nur mit solchen Start-ups zu kooperieren, deren Führungspersonal sie persönlich kennen – und jedes vierte legte Wert darauf, dass die Gründer älter als 25 Jahre waren und langjährige Branchenerfahrung hatten.
In Deutschland gilt die Angst vor dem Scheitern traditionell als eines der größten Hemmnisse für Unternehmergeist. Doch diese Sorge haben ältere Gründer offenbar nicht. Vielleicht auch, weil sie erkennen, dass die Zeit immer knapper wird und man endlich das tun sollte, was einem wirklich wichtig ist. „Viele Gründer setzen in der zweiten Hälfte ihres Erwerbslebens eine Idee um, die sie schon seit Jahren vor sich hergeschoben haben“, sagt Florian Nöll, Vorstandsvorsitzender des Bundesverbandes Deutsche Startups.
Geduldig und gelassen
Der amerikanische Entrepreneurship-Forscher Noam Wasserman, Professor an der Universität von Southern California, beschäftigt sich ebenfalls seit Jahrzehnten mit den Rezepten erfolgreicher Gründer. Er hat herausgefunden, dass sich junge Unternehmer auch von der Aussicht auf eine Führungsaufgabe angezogen fühlen, von Macht und Einfluss. Für Menschen über 40 hingegen spiele beim Gang in die Selbstständigkeit häufiger der Wunsch eine Rolle, Erfahrungen weiterzugeben oder sich selbst neuen Aufgaben zu stellen.
Diese intrinsische Motivation, gepaart mit Geduld, Gelassenheit und einem großen Adressbuch, führt am ehesten zum Erfolg. Manchmal dauert es eben ein wenig länger, bis aus einer guten Idee eine vermarktbare geworden ist – und bis sich das richtige Team gefunden hat.
Claudia Nagel kann das nachvollziehen. Vor einigen Jahren war sie mit ihren drei Kindern einkaufen. Als sie nach Hause kam, stand sie mit vollen Tüten in beiden Händen vor der Haustür. Warum eigentlich musste sie sich nun die Mühe machen, die Tüten abzustellen, um ihren Schlüssel hervorzuholen? Wäre es nicht möglich, die Tür mit einem drahtlosen Helferlein zu entriegeln, das man immer bei sich trägt?
Das brachte sie auf eine Idee, einerseits. Andererseits arbeitete die Wirtschaftsingenieurin damals als Beraterin bei McKinsey. Ein lukrativer Job, den sie nicht so leicht aufgeben wollte: „Ich bin kein Mensch, der alleine gründet“, sagt die 39-Jährige heute. Sie brauchte erst einen Anstupser. Den traf sie eines Tages in Gestalt ihres ehemaligen Kollegen Christian Bogatu. Und schnell wurde ihr klar: Im Team könnte die Schlüssel-Idee klappen. Sie behielt recht.
Vor fünf Jahren gründeten Nagel und Bogatu Kiwi.ki, beide sind weiterhin Geschäftsführer. Das Start-up hat ein Türsystem entwickelt, das ohne herkömmlichen Schlüssel funktioniert. Das Schloss entriegelt sich automatisch, wenn der passende Transponder in der Nähe ist.
Damit konnte Nagel bereits zahlreiche Geschäftskunden überzeugen, darunter auch die Deutsche Post und das Berliner Entsorgungsunternehmen Alba. Ihre bisherige Berufserfahrung schätzt Nagel als „besonders wichtiges Rüstzeug“ ein. Strukturiert arbeiten, Verhandlungen führen, Verträge ausarbeiteten – das habe sie als Beraterin gelernt.
Ansteckender Optimismus
Wer mit älteren Gründern spricht, lässt sich automatisch anstecken von so viel Mut, Optimismus und Gestaltungswillen. Doch gleichzeitig bedauern die Entrepreneure, dass es bislang kaum spezielle Beratungsangebote für gleichgesinnte Altersgenossen gibt. Entrepreneurship-Bildung findet in Deutschland eben vor allem an Hochschulen statt, dort gibt es auch berufsbegleitendende Studiengänge. Die Europäische Union wiederum verweist in einem „Good Practice Manual“ vor allem auf freiwillige Beratung von Gleichaltrigen untereinander. So wie beim Netzwerk 40plus in der Region Bonn/Rhein-Sieg. Dort tauschen sich Unternehmer und solche, die es werden wollen, über relevante Themen aus. Mal geht es darum, YouTube zur Firmenvermarktung zu nutzen, ein anderes Mal geht es um die Frage „Digitalisierung – und was nun?“.
Das fragte sich auch Parstream-Gründer Bienert nach dem Verkauf an Cisco. „Exploring new ventures“ heißt es aktuell auf seiner Xing-Seite. Dahinter verbirgt sich ein Start-up im Bereich künstliche Intelligenz, das demnächst offiziell an den Markt gehen soll. Bienert gründet also erneut – mit inzwischen 51.
Zu seiner Zeit bei Parstream lebte er zwei Jahre im Silicon Valley, das hat ihn geprägt: „Alter ist dort gar kein Thema“, sagt er, „und für mich ist es das auch nicht.“