Der Dokumentarfilmer Erwin Wagenhofer sucht sich gerne die ganz großen Themen. Nach den Sünden der Nahrungsmittelproduzenten („We feed the world“ 2005) und des Weltfinanzsystems („Let’s Make Money“ 2008) hat er es in seinem aktuellen Film „Alphabet“ auf die Schule abgesehen. Die Schule als Keimzelle des kapitalistischen Übels schlechthin: Leistungsdenken.
Der Film ist konzipiert wie die Predigt eines Propheten: Er beginnt mit den Sünden des Konkurrenz- und Leistungsdrucks an den Schulen und präsentiert dann deren Abschaffung als Heilsbotschaft.
Der Ausblick in das Fegefeuer ist tatsächlich schauderhaft: Wagenhofer begleitet chinesische Schüler bei ihrer alltäglichen Paukerei und zeigt ihre ausgepowerten, leeren Gesichter. Dazu hören wir die Erklärungen eines chinesischen Professors über den „bösartigen Strudel der Konkurrenz“, in den die jungen Chinesen gezwungen würden. Als Inkarnation des Ungeistes der Fetischisierung von Leistung und ökonomischer Effizienz treten dann die üblichen glattgebügelten Nachwuchsmanager von McKinsey auf. So hirn- und herzlos werden junge Menschen durch Schulen abgerichtet, will uns Wagenhofer wohl sagen.
Die frohe Botschaft der Erlösung verkündet dann der Hirnforscher Gerald Hüther bei einem Vortrag vor hunderten begeisterten Zuschauern: „Alle Kinder sind hochbegabt, fertig“. Schulen machen Kinder kaputt. Die Alternative? Der Maler-Pädagoge Arno Stern will Tanzen und Malen zu Hauptfächern machen. „Alles andere kommt von selbst.“ Zum Beweis dient sein Sohn André, aus zahlreichen anderen Dokumentationen bekannt als der Mann, der nie eine Schule besuchte und angeblich nie Leistungsdruck erlebte, aber perfekt Deutsch und Französisch spricht. Er verdient sein Geld als Gitarrenbauer.
Wie mit seinen beiden anderen Dokumentarfilmen trifft Wagenhofer wieder einen sensiblen Nerv der Gesellschaft. Erschöpfte Menschen, die sich wie gefangen im immer schneller drehenden Hamsterrad ihres grenzenlos durchökonomisierten Lebens fühlen, nehmen jede Aussicht auf Erlösung gerne an. Sei es das entspannte gute Leben, das die Zeitschrift „Landlust“ verheißt, oder eben die frohe Botschaft des Neuro-Scharlatans Gerald Hüther, der uns allen verkündet, dass wir eigentlich hochbegabt wären, wenn nicht die Schule uns mit ihren Zwängen kaputt gemacht hätte.
Die frohe Botschaft des Films ist verlockend: Wir brauchen keinen Zwang und keine Noten und keine Konkurrenz, wir brauchen eigentlich gar keine Schule im herkömmlichen Sinn. Stattdessen: Pippi Langstrumpf für alle. Als ob wir das alles nicht erst vor wenigen Jahrzehnten ausführlich ausprobiert hätten! Von den Erfahrungen mit der so genannten antiautoritären Erziehung in den 1970er und 80er Jahren ist im Film leider nicht die Rede. Sonst wäre deutlich geworden, dass die Forderung nach der leistungsdruckbefreiten Schule weltfremd und verlogen ist: Wer ein Lernen ohne pädagogische Anleitung und Leistungsdruck verheißt, lügt. Pipi Langstrumpf kann sich die Welt machen, wie sie ihr gefällt, echte Kinder können das nicht.