Die in Jahrtausenden bestätigte pädagogische Erfahrung, dass jede Schulbildung Unterschiede der Begabungen und Fähigkeiten zutage fördert, gilt vielen Bildungsreformern der letzten Jahre als Ausweis der Rückständigkeit. Die allzu menschliche Tatsache, dass die Geistesgaben ungleich verteilt sind und der Mensch, wie Kant so schön sagte, aus "krummem Holz" geschnitzt ist, kann aber nicht mal eine rot-grüne Regierung, die sich von den allerneusten „Erkenntnissen“ der Bildungsforschung leiten lässt, aus der Welt schaffen. Die Bildbarkeit jedes Menschen ist von individuellen Fähigkeiten und Defiziten bestimmt. Jede Schule wird daher immer Ungleichheiten der Schüler erzeugen - ob man diese nun in Noten klar benennt oder nicht. Gerade eine "individuelle Betreuung" wird, wenn sie tatsächlich stattfindet, auch individuelle Grenzen offenbar werden lassen.
Bildungspolitik kann die Schicksalshaftigkeit des Lebens, das Scheitern von Menschen an ihren individuellen Grenzen nicht aus der Welt schaffen. Sie kann nur das Scheitern verdecken und seine Realisierung nach hinten verschieben. Konkret heißt das, sie überlässt den Universitäten und anderen höheren Bildungseinrichtungen die unangenehme Aufgabe der Auswahl. Bis dahin kann sie sich mit Erfolgszahlen schmücken, die immer weniger mit wirklichen Bildungszielen zu tun haben. Wenn alle Abitur machen, ist ein Abitur nichts mehr wert. Notwendigerweise werden Aufnahmeprüfungen oder andere harte Selektionskriterien an die Stelle des früher selektiv wirksamen Abiturs treten. Im Endeffekt begibt sich die Bildungspolitik durch ihre gleichmacherische Beglückungsphantasie ihrer Kontrollmöglichkeiten. Die Kriterien für Bildungserfolg legen andere fest, zunächst die aufnehmenden Hochschulen, dann die Arbeitgeber.
Und die Schüler? Haben sie durch die Abschaffung der scharfen Noten und des Versetzungsrisikos irgendetwas gewonnen? Im Gegenteil, ihnen wird etwas genommen. Nämlich die Möglichkeit der Schullaufbahn als echte Schule des Lebens. Eines Lebens, das auch Rückschläge bedeutet. Eines Lebens, in dem eigene Versäumnisse geahndet werden. Eines Lebens, zu dem immer auch die Möglichkeit des Scheiterns, aber auch die Chance auf einen neuen Versuch gehört.