WirtschaftsWoche: Professor Zulley, haben Sie vergangene Nacht gut geschlafen?
Zulley: Nein, ganz im Gegenteil.
Tatsächlich?
Ja, ich war ein paar Tage unterwegs, deshalb war die Luft in meinem Schlafzimmer heiß und stickig – keine guten Voraussetzungen für eine ruhige Nacht.
Jetzt sind Sie müde und übernächtigt?
Es geht, ich kann ganz gut damit umgehen, wenn ich mal eine Nacht nicht gut schlafe.
Sie gelten als einer der renommiertesten Schlafforscher Deutschlands, haben zahlreiche Bücher veröffentlicht und beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit dem Thema. Schlafen Sie normalerweise besser als andere Menschen?
Vermutlich profitiere ich schon von meinem Wissen. Aber am wichtigsten ist sowieso nur eines – Gelassenheit.
Falsche Volksweisheiten rund um den Schlaf
Falsch. Menschen haben unterschiedliche Schlafbedürfnisse. Als optimal gelten im Schnitt sieben Stunden. Aber letztlich muss jeder sein Optimum finden. Bestes Indiz: Wer sich tagsüber fit fühlt, hat nachts genug geschlafen.
Falsch. Die Qualität des Schlafs hat damit nichts zu tun. Unserem Körper ist es egal, wann wir einschlafen. Viel wichtiger ist, genügend Stunden tief und fest zu schlummern. Doch klar ist: Je später wir ins Bett gehen, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dieses Pensum zu erreichen.
Falsch. Kurzfristig geht das vielleicht, langfristig sind unregelmäßige Schlafzeiten eher schädlich. Unser Körper liebt Beständigkeit, sie ist essenziell für guten Schlaf. Arbeiten Sie lieber an Ihren Gewohnheiten unter der Woche, anstatt am Wochenende Schlaf nachzuholen. Oder fühlen Sie sich fit, wenn Sie zwölf Stunden durchgeschlafen haben?
Falsch. 45 Prozent der Deutschen gehen zwar davon aus, der Mond habe Einfluss auf ihren Schlaf. Ein Zusammenhang zwischen Mondphase und Schlafdauer ließ sich bisher aber nicht nachweisen. Erklären lässt sich dieser Volksglaube eher mit dem Phänomen selektiver Wahrnehmung: Wer nachts wach liegt und am Himmel den Vollmond entdeckt, prägt sich solche Momente stärker ein.
Wieso?
Ein Beispiel: Viele Menschen regen sich auf, wenn sie mal nicht einschlafen können. Aber das führt nur zu Anspannung und innerer Unruhe…
…also das Gegenteil von Müdigkeit.
Genau. Viel wichtiger ist die Reaktion der Betroffenen. Entspannung ist der Königsweg, um in den Schlaf zu finden. Das gilt auch für das Aufwachen mitten in der Nacht…
…man guckt auf die Uhr und denkt sich: Verdammt, jetzt bin ich wach.
Viele reagieren so, ja – aber das ist genau falsch. Wenn mir das passiert, denke ich: Erst drei Uhr nachts – toll, ich muss noch nicht aufstehen. Außerdem dürfen Sie nicht vergessen: Jeder Mensch wacht im Schnitt fast 30 Mal pro Nacht auf – bloß sind die Momente so kurz, dass man sich am nächsten Morgen nicht daran erinnert.
Warum schlafen wir denn nicht durch?
Das hat die Evolution prima eingerichtet. Für unsere Vorfahren war es essenziell, dass sie gelegentlich wach wurden, um die Umgebung buchstäblich zu überwachen – andernfalls riskierten sie, von Feinden überrascht zu werden.
Mythos Schlafspeicherung
Theoretisch haben wir heute aber bessere Schlafbedingungen – weiche Matratzen, Kissen und Decken. Praktisch klagen viele Menschen über Schlafprobleme. Wieso?
Das hat mehrere Gründe. Zum einen fühlen sich viele Menschen ständig unter Stress, die Informationsflut hat zugenommen, wir stehen unter selbst auferlegtem Leistungsdruck – alles Faktoren, die schlechten Schlaf begünstigen. Außerdem scheint es gewissermaßen in Mode zu sein, wenig zu schlafen, um seine vermeintliche Leistungsfähigkeit und Bedeutung unter Beweis zu stellen. Wir haben eine ungesunde Schlafkultur.
In der Tat brüsten sich viele Topmanager damit, pro Nacht nur vier oder fünf Stunden Schlaf zu brauchen. Was sagen Sie dazu?
Ich halte das für dumme Angeberei. Kein Mensch kommt langfristig mit so wenig Schlaf aus – jedenfalls nicht ohne körperliche und geistige Schäden.
Wie viel Schlaf ist denn normal?
Sieben Stunden, plus minus zwei Stunden. Also minimal fünf, maximal neun Stunden. Letztendlich muss das aber jeder für sich selbst herausfinden.
Und zwar wie?
Wer sich tagsüber nicht müde fühlt, hat genug geschlafen. Klingt banal, ist aber der beste Tipp. Wobei das individuelle Schlafbedürfnis von vielen Faktoren abhängt. Kinder brauchen mehr Schlaf als Erwachsene, Senioren weniger. Außerdem gibt es auch eine genetische Komponente, der eine benötigt mehr, der andere weniger Nachtruhe. Aber fünf Stunden sollten es mindestens sein, alles andere halte ich für unverantwortlich.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat kürzlich aber behauptet, sie verfüge über „gewisse kamelartige Eigenschaften“ und könne Schlaf speichern. Ein netter Spruch, aber wissenschaftlich Unsinn. Man kann höchstens eine Nacht vorschlafen, so wie das Kleinkinder häufig an Silvester tun. Aber langfristig Schlaf speichern ist unmöglich.
Andere sagen: Was ich unter der Woche an Schlaf verpasse, hole ich am Wochenende nach. Eine gute Strategie?
Ganz und gar nicht. Oder fühlen Sie sich fit und munter, wenn Sie am Wochenende mal zwölf Stunden durchschlafen?
Nein, eher ziemlich gerädert.
Sehen Sie. Beim Schlaf gilt nicht: Je mehr, desto besser. Es kommt auf ein gesundes Mittelmaß an. Oder anders gesagt: Entscheidend ist die Schlafqualität, nicht die Schlafdauer.
Und was ist Ihr ultimativer Tipp für guten Schlaf?
Vor allem Gelassenheit. Darüber hinaus: Finger weg vom Handy im Bett, elektronisches Licht fördert den Wachzustand. Lauschen Sie lieber ruhiger Musik. Denken Sie auf keinen Fall an die Arbeit. Vor allem bedenken Sie: Die meisten Schlafprobleme werden am Tag verursacht – durch zu viel Kaffee und Stress, zu wenig Bewegung und Entspannung. Wer tagsüber ständig Vollgas gibt, dem hilft abends auch keine Vollbremsung – denn der Gashebel klemmt und die Drehzahl bleibt oben.