Gore-Deutschlandchef Oskar Berger ist ihm in diesem Punkt gleich mehrere Schritte voraus. Denn in seinem Unternehmen gibt es keinerlei Hierarchien. Gab es auch nie. Denn das Unternehmen, das vor allem für sein wasserdichtes, atmungsaktives Gore-Tex-Gewebe bekannt ist, folgt keinen klassischen Regeln. Das zeigt sich schon in der Gründungsgeschichte.
Als Bill Gore Ende der Fünfzigerjahre seine Firma aufbaute, wollte er vor allem eins: Alles sollte anders sein als bei seinen bisherigen Arbeitgebern. Keine starren Hierarchien, keine ausufernde Bürokratie – denn die bedeuten für den Chemiker das Ende von Forscherdrang und Engagement der Mitarbeiter. Stattdessen sollte sein Unternehmen wie ein Labor aufgebaut sein. Eine geschützte kleine Einheit, in der jeder jeden kennt, sich vertraut und keine Angst davor hat, laut auszusprechen, wenn etwas nicht gut läuft. „Bei uns gibt es keine Schleimer“, sagt Oskar Berger. „Unsere Mitarbeiter sind sehr selbstbewusst.“
Wenn einem Mitarbeiter etwas nicht passt, teilt er ihm das persönlich mit. „Das musste ich zu Beginn meiner Zeit bei Gore als Führungskraft auch erst einmal lernen – bei uns gibt es in diesem Sinn keine Hierarchien oder dicke Türen, hinter denen man sich verstecken kann“, sagt er. Stattdessen hat heute jede Gore-Einheit maximal 250 Mitarbeiter. Chefs gibt es nicht, nur sogenannte Leader. Wer zu einem solchen ernannt wird, entscheiden die Mitarbeiter wesentlich mit.
Schlechter Chef? So werden Führungsschwächen zu Entwicklungschance für die Mitarbeiter
Der Mangel an Anerkennung macht vielen Mitarbeitern zu schaffen. Wichtiger als irgendein Lob von außen ist jedoch die Selbstachtung. Letzten Endes sollten wir so unabhängig wie möglich von äußerer Anerkennung werden. Wir dürfen andere nicht zu unseren Richtern machen. „Der Gerichtshof ist im Innern des Menschen aufgeschlagen.“ konstatierte Immanuel Kant. Die Stärkung der Selbstachtung wäre die angemessene Reaktion auf fehlendes Lob vom Chef.
Quelle: Diplom-Psychologin Marion Lemper-Pychlau
Es gibt sie noch, die autoritären Chefs. Entweder unterwirft man sich ihnen oder man bietet ihnen die Stirn. Wer sich wehrt, muss mit Schwierigkeiten rechnen. Andererseits übt er sich darin, eigene Interessen zu behaupten, Konflikte zu ertragen und seine Selbstachtung zu wahren.
Es geht nicht immer anständig zu. Vorgesetzte mit einer fragwürdigen Ethik sollten mehr als Empörung auslösen. Da ein Angestelltenverhältnis nicht von der Verantwortung für das Ganze entbindet, ist es wichtig, in solchen Fällen Widerstand zu leisten. Mitarbeiter müssen für ihre Werte einstehen. Gut sein stärkt die Selbstachtung und fühlt sich gut an. Feigheit eher nicht.
Manchmal sind Vorgesetzte unsicher und scheuen vor Entscheidungen zurück. Die Unentschlossenheit der Führungskraft kann Anlass für die Eigeninitiative ihrer Mitarbeiter sein. Sei es, indem man Überzeugungsarbeit leistet, Unterstützung anbietet oder Fakten schafft. Sicher ist: Wo Vorgesetzte ihre Spielräume nicht nutzen, erweitern sich die der Mitarbeiter.
Offenbar geben Vorgesetzte mit ihrem Mangel an sozialer Kompetenz den Mitarbeitern einen häufigen Grund zum Klagen. Für die Mitarbeiter kann das eine ausgezeichnete Gelegenheit sein, die eigene soziale Kompetenz zu verbessern: Sie können beispielsweise lernen, strategisch zu denken, diplomatischer zu kommunizieren, geschickt Einfluss auszuüben, nicht alles persönlich zu nehmen etc.
Doch wo findet Berger all diese selbstbestimmten Angestellten? Darauf achtet das Unternehmen schon im Bewerbungsgespräch. „Wir wollen unternehmerisch denkende Mitarbeiter“, sagt Berger. Er fragt nach schwierigen Situationen aus der Vergangenheit und wie die Person sie gelöst hat. Und zwar sie ganz allein. Nicht als Teil eines Teams oder gemeinsam mit dem Chef. „Das gibt einen guten Einblick, wie selbstständig jemand arbeitet und welche Rolle der Bewerber gespielt hat“, sagt Berger. So trennt sich die Spreu vom Schleimer.
Eine andere Möglichkeit, um dieser Falle zu entkommen, ist das Mehraugenprinzip in Bewerbungsgesprächen. „Viele Unternehmen erlauben es mittlerweile nicht mehr, dass der Chef alleine seine neuen Mitarbeiter aussucht“, sagt BWL-Professor Biemann. „Selbst in kleineren Firmen gibt es Auswahlgremien, um sich vor zu viel Homogenität zu schützen.“ Außerdem empfiehlt der Experte für Personalmanagement, bei der Zusammenstellung eines Teams vor allem darauf zu achten, dass die Mitglieder aus unterschiedlichen Fachrichtungen kommen. Um zu untermauern, dass der Wunsch nach Widerspruch nicht nur Gerede, sondern ernst gemeint ist, müssen Vorgesetzte handeln statt palavern. „Loben Sie unbequeme Querdenker öffentlich, stellen Sie ihnen gute Bewertungen aus und befördern Sie sie“, rät Biemann.