Empathie Die zehn Nachteile des Mitgefühls

Empathie ist grundsätzlich gut. Gerade Chefs, die sich in andere hineinversetzen, führen angeblich besser und treffen klügere Entscheidungen. Doch jetzt warnen Forscher vor zu viel Einfühlsamkeit. Wer hat Recht?

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71 Prozent der Deutschen finden, dass sich die meisten nicht um ihre Mitmenschen kümmern. Quelle: Fotolia

Sie wollen irgendwann mal Chef sein oder ein besserer werden? Dann müssen Sie vor allem eine Fähigkeit besitzen: Empathie – also die Bereitschaft und Fähigkeit, sich in andere Menschen einzufühlen.

Diesen Eindruck gewinnt man zumindest beim Blick auf die Titel aktueller Ratgeber zu dem Thema. Die renommierte Wissenschaftlerin Tania Singer, Geschäftsführende Direktorin am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaft in Leipzig, rät zu „Mitgefühl in der Wirtschaft“; für den Coach und Berater Andreas Graf ist Anteilnahme das „Führungsinstrument unserer Zeit“; der Wissenschaftsjournalist und Bestsellerautor Werner Bartens ist davon überzeugt, dass einfühlsame Menschen „gesund und glücklich“ sind; und der amerikanische Ökonom Jeremy Rifkin fordert bereits seit Jahren eine „empathische Zivilisation“.

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Tatsächlich belegen Dutzende von Studien die Vorteile von Empathie – für den Körper ebenso wie für die Karriere. Wer sich in Kollegen, Kunden und Konkurrenten hineinversetzt, kann demnach besser mit Stress umgehen, leidet seltener an Depressionen und ist außerdem weniger schmerzempfindlich. Doch bei all den positiven Aspekten gerät ein wichtiges Detail in Vergessenheit: Empathie hat durchaus Schattenseiten.

1. Empathie laugt aus

Was sich vermeintlich leicht anhört, ist in Wahrheit harte Arbeit: In die Gefühlszustände anderer einzutauchen raubt Kraft. Studien belegen, dass Menschen, die besonders empathisch sind, schneller ermüden und sich von ihrem Job leichter überfordert fühlen. Grund dafür ist das Stresshormon Cortisol: Bei emphatischen Menschen flutet es den Körper stärker, denn Stress steckt wortwörtlich an – selbst wenn wir ihn nur bei anderen beobachten.

Das fand Tania Singer in einer Untersuchung im Jahr 2014 heraus. Sie ließ 151 Probanden komplizierte Kopfrechenaufgaben lösen und harte Vorstellungsgespräche absolvieren, während zwei vermeintliche Experten ihre Leistung beurteilten. Wenig überraschend: Die meisten Probanden ließen sich aus der Ruhe bringen, bei ihnen stieg der Cortisolspiegel deutlich an. Schon überraschender: Selbst bei den neutralen Beobachtern, die eigentlich entspannt zugucken konnten, machte sich das Stresshormon bemerkbar – und zwar selbst dann, wenn ihnen die andere Person völlig fremd war: „Emotionale Verbundenheit ist keine Voraussetzung für empathischen Stress“, resümierten die Forscher.

Wer die Nöte seiner Kollegen zu stark annimmt, kann deshalb selbst in Bedrängnis geraten. Das zeigt sich beispielsweise in Berufen, die ohnehin nach viel Einfühlungsvermögen verlangen. Kranken- und Altenpfleger etwa, die sich besonders bereitwillig aufopfern, sind emotional häufiger überlastet. Der Psychiater Lawson Wulsin analysierte 2014 die Daten von 215.000 Erwerbstätigen im US-Bundesstaat Pennsylvania. Und fand dabei heraus, dass Depressionen überdurchschnittlich oft bei jenen Berufen vorkommen, die besonders viel mit anderen interagieren müssen. Im Klartext: Kunden, Patienten und Mitmenschen sind der Stressfaktor Nummer eins.

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2. Empathie macht einsam

Einfühlungsvermögen ist kein unerschöpfliches Reservoir: Wer sich tagsüber schon der Probleme seiner Kollegen annimmt, kommt abends abgestumpft nach Hause. Das belastet Beziehungen mitunter stark: Jonathon Halbesleben von der Universität Alabama untersuchte im Jahr 2009 gemeinsam mit Kollegen das emotionale Gleichgewicht von 800 Angestellten in verschiedenen Branchen – vom Friseur bis zum Feuerwehrmann.

Allen Mitarbeitern, die Kollegen besonders gerne zuhörten oder sie tatkräftig unterstützten, war eines gemein: Sie hatten Probleme damit, zu ihren Freunden und Verwandten eine gute Beziehung aufrechtzuerhalten. Anders formuliert: Sie hatten ihr Kontingent an Mitgefühl bereits im Job aufgebraucht.

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