Verkehrte (Finanz)Welt
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Darum erhalten Unternehmen jetzt sogar Geld fürs Kreditaufnehmen

Der Neuemissionsmarkt für europäische Unternehmensanleihen folgt einer veränderten Logik: Unternehmen bekommen neuerdings sogar Geld oben drauf, wenn sie Kredite aufnehmen. Was ist geschehen?

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Anleger akzeptieren sinkende, teilweise negative Renditen, wenn Sie Geld an Unternehmen verleihen. Längere Laufzeiten von bis zu 30 Jahren haben Konjunktur. Warum? Welche Rolle spielt die EZB? Und wie könnte sich der Markt entwickeln?

Die Schlagzeilen der Medien sind gefüllt mit Meldungen über Kreditinstitute, die ihren Kunden keine Zinsen bieten oder sogar Negativzinsen berechnen. Die lockere Geldpolitik der EZB macht es nicht nur für Privatanleger, sondern auch für institutionelle Investoren schwierig, erträgliche Geldanlagen zu finden. 

Wer zu Beginn des Zinssenkungszyklus der EZB in Anleihen investiert hat, kann sich heute über Kursgewinne freuen. Weil die EZB und die Notenbank der USA im vergangenen Jahr entgegen den ursprünglichen Markterwartungen die Leitzinsen senkten, sind die Kurse vieler Anleihen weiter gestiegen. Die Kehrseite dieser Entwicklung macht sich bei der Wiederanlage realisierter Gewinne bemerkbar. Die gewohnten, kalkulierbaren Anleiherenditen sind heute eher Mangelware.

Zwei Seiten derselben Medaille

Was für Anleger unerfreulich ist, ist für Schuldner so etwas wie ein Geschenk. Unternehmen können sich aufgrund des historisch niedrigen Zinsniveaus zu beispiellos niedrigen Zinssätzen am Anleihemarkt finanzieren.

International tätige deutsche Großunternehmen mit hoher Bonität im Investment-Grade-Bereich haben sich 2019 besonders stark engagiert und rund 80,6 Milliarden Euro am Markt für Euro-Anleihen geliehen. Deutsche Unternehmen waren im vergangenen Jahr die aktivsten Emittenten, gefolgt von französischen Unternehmen, die sich mit insgesamt 68,4 Milliarden Euro versorgten.

Der deutsche Automobilsektor lieh sich trotz des Dieselskandals und eines strukturellen Anpassungsbedarfs aufgrund des Trends zur E-Mobilität mehr als 37 Milliarden Euro.

Siemens versorgte sich am Kapitalmarkt bei der gleichzeitigen Emission dreier Anleihen mit unterschiedlichsten Laufzeiten an einem einzigen Tag mit 3,5 Milliarden Euro an Finanzmitteln. Aufgrund der überdurchschnittlich guten Bonität des DAX-Konzerns akzeptierten die Anleger bei der Anleihe mit fünfjähriger Laufzeit eine Rendite von minus 0,207 Prozent.

Zum Jahresende 2019 lieh sich die Deutsche Telekom für 30 Jahre Geld. Geber waren hauptsächlich Versicherungen und institutionellen Fonds, die das Geld mit einer Rendite von 1,854 Prozent an das Unternehmen verliehen.



Auch der französische Telekommunikationsanbieter Orange versorgte sich mit Geld, das er erst in 30 Jahren zurückzahlen muss.

Längere Laufzeiten, die neue Normalität

Bisher war es eher ungewöhnlich, dass Unternehmen derartig lange Finanzierungshorizonte wählten. Das hat sich geändert. Aufgrund des derzeitigen Zinsniveaus werden lange Laufzeiten immer öfter zu einem Bestandteil des Finanzierungsmixes von Unternehmen. Im Jahr 2019 war das Gesamtvolumen aller auf den Markt gebrachten neuen Unternehmensanleihen mit längeren Laufzeiten höher als im gesamten vorangegangenen Zehnjahreszeitraum. Wie kam es dazu?

Der Ursprung liegt im CSPP

Seit Juni 2016 kauft die EZB im Rahmen des Corporate Sector Purchase Programme (CSPP) Anleihen von Unternehmen im Euroraum. „Das CSPP soll das Durchwirken der Wertpapierkäufe des Eurosystems auf die Finanzierungsbedingungen in der Realwirtschaft weiter verstärken“, teilte die EZB mit.

Durch den gezielten Kauf von Anleihen wirkte die Zentralbank unterstützend auf den Markt für Unternehmensanleihen ein und regte die Emissionstätigkeit an. Nachvollziehbar ist dieser Effekt anhand der Entwicklung von Anleihen bonitätsstarker Unternehmen aus dem realwirtschaftlichen Sektor des Euroraums.

Nachdem im Spätsommer 2019 die Wiederaufnahme der Nettokäufe unter dem CSPP bekanntgegeben wurde, sank der durchschnittliche Kreditrisikoaufschlag auf 0,61 Prozent. Zuvor hatte sich die Prämie am Jahresbeginn 2019 nach dem Auslaufen der Nettokäufe des ersten Ankaufprogramms auf 0,94 Prozent verteuert. Bei der Begebung einer Benchmark-Emission von einer Milliarde Euro spart sich ein Unternehmen somit durchschnittlich 3,3 Millionen Euro an Zinsaufwand pro Jahr. Investoren fordern kaum noch die in der Vergangenheit übliche Zinsprämie, die bei Begebung einer neuen Anleihe im Vergleich zu ausstehenden Anleihen bezahlt wurde. Ganz im Gegenteil, die Nachfrage ist so hoch, dass Anleger teilweise einen Abschlag akzeptieren.

Obwohl sich die EZB bei ihren Stützungskäufen auf Anleihen von Unternehmen aus dem Euroraum konzentriert, kamen Unternehmen aus Übersee ebenfalls zum Zuge. Auch sie nahmen aufgrund der attraktiven Finanzierungskonditionen Rekordsummen an frischen Finanzmitteln in der Gemeinschaftswährung auf. Allein US-Konzerne emittierten Euro-Anleihen im Wert von 41,1 Milliarden Euro.

Um ihre Kreditkosten weiter zu reduzieren, können Unternehmen außer von den niedrigen Kreditaufschlägen auch vom Trend zu grünen Anleihen profitieren. So fand eine Studie der Climate Bond Initiative heraus, dass fast zwei Drittel der als grün bezeichneten Anleihen zur Finanzierung nachhaltiger Projekte mindestens zu gleichen oder sogar günstigeren Zinskonditionen begeben wurden, als es bei herkömmlichen Anleihen der Fall war.

Auch in den kommenden Monaten werden Unternehmen das historisch günstige Umfeld nutzen, um sich zu finanzieren. Die Welle an neuen Anleihen wird voraussichtlich nicht nachlassen. Gleichzeitig werden Investoren sich in diesem Marktsegment zunehmend bei den langen Laufzeiten bedienen, um im Zeitalter der negativen Zinsen weiterhin Einkommen zu erwirtschaften. Einhergehend mit dem erweiterten Zeithorizont, steigen dabei jedoch Kapitalbindung und Risiko der Investition.

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