Unter Konzernjuristen herrscht dieser Tage Alarmstimmung. Die in den USA verbreitete Rechtspraxis, exorbitante Strafen als Mittel zur Abschreckung zu verhängen, wird zunehmend auch in Deutschland Usus. Den Anfang hat das Kartellrecht gemacht, es folgten die Datenschutzgesetze. Und nun soll nach dem Willen von Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) auf den letzten Metern der großen Koalition noch das Verbandssanktionengesetz, vulgo Unternehmensstrafrecht, folgen.
Strafen in einer Höhe von bis zu zehn Prozent vom globalen Konzernumsatz sind darin vorgesehen. Verhängt werden könnten sie gegen alle Arten von Complianceverstößen. Dass die Gerichte bereit sind, diesen Rechtsrahmen tatsächlich auszuschöpfen, haben sie jüngst am Beispiel H&M bewiesen: Die Textilkette wurde im vergangenen Herbst wegen Verstößen gegen den Datenschutz zu 34 Millionen Euro Geldbuße verurteilt. Führungskräfte hatten in einer Datenbank über Jahre private Informationen über ihre Mitarbeiter gesammelt, vermutlich um damit Druck auf sie ausüben zu können.
Doch die Schärfe des Gesetzentwurfs zum Unternehmensstrafrecht provoziert Widerspruch. Zwar ist die zunächst geplante Ultima Ratio, die Schließung von Unternehmen, inzwischen vom Tisch. Doch die Höhe der angedrohten Geldstrafen halten Juristen wie Jan Eckert, Chefjurist von ZF Friedrichshafen, für „existenzbedrohend, zumal die Bandbreite der möglichen Taten so riesig ist“. Strafverteidiger Jürgen Wessing ergänzt: „Niemand kann noch überschauen, wo in Nebengesetzen überall unvermutete Strafvorschriften stehen.“ Korruption, Betrug, Untreue und Kartelle, Verstöße gegen Arbeitsschutz, verbotene Leiharbeit, Exportverbote, Umweltgesetze, auch Mobbing oder sexuelle Belästigung – das alles können Complianceverstöße sein.


Was die Existenzen von Unternehmen bedrohen könnte, sichert zunächst die der großen Anwaltskanzleien, die schon in der Vergangenheit bei internen Ermittlungen gutes Geld verdient haben. Schon jetzt müssen Vorstände und Geschäftsführer Verletzungen von Gesetzen und firmeninternen Regeln vollständig aufklären. Sie beauftragen dafür ganze Teams von Anwälten samt IT-Experten mit internen Untersuchungen. Diese befragen dann oft wochenlang Mitarbeiter und gehen mit Spezialsoftware auf die Suche nach Datenspuren. Jüngstes Beispiel: Freshfields untersucht beim Springer-Verlag womöglich problematisches Führungsverhalten des „Bild“-Chefredakteurs Julian Reichelt. Solche Aufträge könnten sich bald häufen. Käme das Verbandssanktionengesetz wie geplant, müssen Untersuchungen in Zukunft sogar von zwei unabhängigen Teams durchgeführt werden. Dabei seien schon für ein Team oft zweistellige Millionensummen fällig, erzählt Konzernjurist Eckert.
Zumindest den Interessen der Justiz wäre damit gedient. Staatsanwälte und Richter sind seit Jahren überlastet. Ehe Ermittler nach einer Strafanzeige überhaupt loslegen, dauert es schon mal zwei, in Ausnahmen sogar bis zu fünf Jahre. „Umso lieber bekommen Staatsanwälte Ermittlungsergebnisse der Unternehmen ohne Einsatz eigener Ressourcen auf dem Silbertablett“, sagt Compliancejurist Peter Fissenewert von der Kanzlei Buse.
Jury und Methodik
Das Handelsblatt Research Institute (HRI) fragte im Auftrag der WirtschaftsWoche rund 1300 Juristen aus 182 Kanzleien nach ihren renommiertesten Kollegen für Wirtschaftsstrafrecht und Compliance. Nach Bewertung der Jury setzten sich für das Wirtschaftsstrafrecht 57 Kanzleien mit 99 Anwälten und für Compliance 36 Kanzleien mit 56 Juristen durch.
Die Jury: Roman Reiss (Bosch), Anke Louis-Byers (Organon/MSD), Sebastian Lochen (Thyssenkrupp), Claas Westermann (RWE), Jan Eckert (ZF Friedrichshafen) und Achim Schunder (C.H. Beck).
Im nun vorliegenden Gesetzentwurf wurde sogar ein Weg gefunden, um sicherzustellen, dass sich Unternehmen nicht auf Pro-forma-Ermittlungen beschränken: Wer eine Aussicht auf Strafmilderung haben will, muss laut Entwurf voll kooperieren. „Interne Ermittlungen und Complianceprogramme werden damit zu den wichtigsten Instrumenten, um Geldbußen kräftig zu senken oder sich gar freizukaufen“, sagt Philipp Engelhoven, Complianceanwalt bei Esche Schümann Commichau. Das sei zwar aufwendig, aber lohnend. Dann könnten die Top-Manager auch im Amt bleiben und sich als Aufräumer positionieren. Geht es um Verstöße, „die kein systemisches Versagen waren, sondern hinter denen der Fehler eines einzelnen Mensch steht, fallen Strafen geringer aus“, sagt Anke-Kathrin Louis-Byers, Compliancechefin beim Pharmaunternehmen Organon. Ärgerlich nur, „dass der Gesetzgeber nicht sagt, wie Compliancesysteme nun aussehen sollen“, ergänzt ZF-Rechtschef Eckert. Was wiederum eine Frage der Perspektive ist: Auch das Aufsetzen dieser Systeme ist längst ein einträgliches Geschäftsfeld spezialisierter Anwälte.
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