Es braucht wenige Sekunden und die Stimme des Mannes überschlägt sich schon wieder: „Worauf wartet ihr?“, brüllt er in die Bosporus-schwarze Nacht. „Das Geschäft liegt da, man muss nur loslegen“, ruft er. „Das erzählt ihr mir seit acht Wochen und nichts tut sich.“
So ist sie, die Welt des Mehmet E. Göker. Grundsätzlich geht es darum, dass sich Göker mit Ignoranten herumschlagen muss, die einfach nicht begreifen, welches Geschäftspotenzial sie da gerade verschenken. Und so ruft er auch dieses Mal etwas, was sich an dieser Stelle nicht zitieren lässt, und beendet das Gespräch. Was wiederum ein Auftakt ist, der belegt: Er ist wieder da.
Es gibt eine Viertelmillion Versicherungsvertreter in Deutschland. Schlechte, gute, sehr gute. Und es gibt Mehmet E. Göker. Der Mann, der sie alle getoppt hat. Mit 23 fing er an, private Krankenversicherungen zu vermitteln; mit 25 hatte er seine erste Million zusammen, am Ende beschäftigte er 1400 Mitarbeiter - und sah seine Geschichte auf der Kinoleinwand verewigt.
Mehmet Göker: So wird man Millionär
Im Internet-Netzwerk Facebook verbreitet der Versicherungsvertreter gerne seine Lebensweisheiten. Seine Fans lieben das und kommentieren seine Bemerkungen fleißig.
„Merke Dir: Noch nie ist jemand Millionär geworden, dessen Intention es war, Millionär zu werden !“
„Millionär wird man, indem man etwas tut, was einem Spaß macht - aus Leidenschaft und dann mit 100 Prozent Hingabe dieser Leidenschaft mindestens 60 Stunden die Woche nachgeht.“
„Wenn dann noch ein Schuss Kreativität, Eigenmotivation, Disziplin, Ordnung und Fleiß Deine Attribute sind, dann ist es möglich, Millionär zu werden.“
„Aber glaube mir eines: Jemand, der etwas gerne macht, hat das Ziel glücklich zu sein und nicht Millionär zu werden. Das Geld kommt von ganz alleine. Jemand, der das Ziel verfolgt, Millionär zu werden, der wird weder glücklich noch Millionär.“ . . .
. . . „Er vergeudet einzig und allein seine Lebensenergie damit, ein Leben lang dem schnöden Mammon hinterher zu laufen.“
Der wollte doch immer reich & berühmt werden, wendet ein Facebook-Nutzer ein.
„Never. Bohlen wollte singen, Gitarre spielen. Das war immer seine Leidenschaft. Sein Vater war Millionär. Und er hätte in seiner Firma anfangen können. Statt dessen hat er bei einem Hamburger Musikstudio für 4.000 Mark brutto angefangen! Und sich dann Lied für Lied hoch gearbeitet!“
„Genau das ist der Grund, wieso ich diese Sympathie für Dieter Bohlen habe!“, kommentiert ein Anhänger den Göker-Kommentar. „Wieso? Weil er es durchgezogen hat, obwohl er nicht der beste Sänger war und oft verhasst wurde, jedoch ist er immer wieder aufgestanden, egal wie oft - er unten lag! Respekt vor dieser Leistung!“
"Exakt. Ich habe ihn schon immer bewundert und geliebt. In den 80ern in der Grundschule sangen wir auf dem Schulhof Cherry Cherry Lady"
Was folgte, war dann nicht mehr so glamourös: Staatsanwälte, Insolvenzverwalter, Richter und jede Menge Feinde in der Versicherungsbranche, die sich um einen zweistelligen Millionenbetrag von Göker geprellt sahen. Am Ende flüchtete Göker in die Türkei, dort lebt er bis heute.
Hinein ins Refugium des Größenwahns
Immerhin: Am Montagabend kehrt ein wenig Glamour zurück ins Leben von Göker. Zumindest für 75 Minuten. So lange geht der dann im Fernsehen erstausgestrahlte NDR-Film „Versicherungsvertreter 2. Mehmet Göker macht weiter“ des Kasseler Dokumentarfilmers Klaus Stern, der auch schon den ersten Kinoerfolg über Göker gedreht hat. Während der einstige Vorbildvertreter sich in dem Rest-Ruhm sonnen kann, verspricht der Film für einige Vertreter des deutschen Versicherungsgewerbes eher nicht so glamourös zu werden: Der Film legt nahe, dass sie trotz aller Skandale weiter mit Göker zusammenarbeiten.
Der Lamborghini dröhnt durch das Städtchen Izmir, hält vor einem tristen Gebäudekomplex, der offenbar mal ein Hotel beherbergen sollte, die Kamera schneidet mitten rein in das Refugium des Größenwahns, das Göker sich hier geschaffen hat.
Gökers Welt: Politiker und Sportler
FDP-Chef Guido Westerwelle traf kurz vor der Bundestagswahl am 18. August 2009 Göker zu einem Abendessen in Kassel. Wie der „Stern“ berichtete, erhoffte sich Westerwelle eine Parteispende von Mehmet Göker, der damals noch den Kasseler Versicherungsvertrieb MEG führte. "Die MEG hatte im Wahlkampf eine Spende für die FDP angekündigt", räumte ein FDP-Sprecher ein.
Göker war Hauptsponsor des Boxers. 2006 bis 2009 wurde Arthur Abraham zum „Boxer des Jahres“ durch das Magazin „Boxsport“ gewählt. Markant an Abraham war sein Einmarsch zum Ring: Er kam mit einer Schlumpfmütze zum Ring, dabei wurde das „Lied der Schlümpfe” in einer auf ihn getexteten Version eingespielt.
Eines Tages ist der Fußballweltmeister Günter Netzer zu Gast in der Firmenzentrale in Waldau, berichtet HNA Online in einem Bericht über den Göker-Film. Göker habe es versäumt, sich mit ihm fotografieren zu lassen. Später habe er in die Vorstandsrunde hinaus gerufen: „Jetzt habe ich ein Foto vergessen, verdammte Hacke!“
In der Kasseler Stadthalle sorgte der Opern-Tenor für große Gefühle: Dort sang der britische Tenor Paul Potts vor mehreren hundert Mitarbeitern des Versicherungsanbieters MEG.
MEG sicherte sich die Namensrechte an den Göttinger Basketballern bis zum Abschluss der Saison 2010/11, berichtete das Göttinger Tageblatt im Mai 2009. Über die Höhe der jährlich fließenden Sponsoringgelder für Spitzenmannschaft der Basketball-Bundesliga wollten beide Vertragsparteien keine genauen Angaben machen, MEG-Vorstandsreferentin Sylvia Könneker sprach von einer "hohen sechsstelligen Summe für die gesamte Vertragslaufzeit". Göker: „Der Basketball unterstützt unser Unternehmen, bundesweit bekannt zu werden."
Der Kasseler Ferrari-Händler Helmut Eberlein stellt laut HNA Online fest: Der MEG-Vorstand war vorwiegend mit Ferraris unterwegs. Die von der MEG geleasten Ferraris seien aber alle noch da. Die MEG hatte einen Fuhrpark mit 125 Fahrzeugen. Der 490 PS starke Ferrari F 430 Spider F1 im Farbton „blu mirabeau“ von Göker selbst stellte Eberlein in seinem Autohaus wieder zum Verkauf.
Der Mit-Dreißiger steht in einem Raum, der ihm als Büro dient, und schreit – Göker schreit immer, wo andere sprechen würden – typische Göker-Sätze: „Einmal im Monat kommen meine Freunde aus Las Vegas und entrichten ihren Tribut.“ Oder: „Nichts riecht so gut wie US-Dollar.“ Oder: „Das Geschäft mit der Privaten Krankenversicherung läuft noch immer.“
Das wäre insofern bemerkenswert, als dass die deutschen Versicherungskonzerne nach Gökers Pleite insgesamt 38,7 Millionen Euro Forderungen beim Insolvenzverwalter geltend machten. Und alle Versicherungen sich gar nicht schnell genug von Göker distanzieren konnten. Erst Anfang des Jahres gab die Allianz bekannt, man werde Göker nun mit allen Mitteln verfolgen.
Gökers Größenwahn und Unverfrorenheit
Alles andere wäre auch nicht opportun. Die Staatsanwaltschaft Kassel ermittelt noch immer gegen den Mann, unter anderem wegen Insolvenzverschleppung, aber auch einiger anderer unappetitlicher Geschichten. Und einen europaweiten Haftbefehl gibt es ebenfalls. Gute Geschäftspartner sehen anders aus.
Der Gescholtene selbst aber brüstet sich in dem NDR-Film mit Großem: Axa, Hallesche, Hanse-Merkur – er mache mit vielen Versicherern Geschäfte. „Das Geld kommt zu mir, auf welchem Weg ist doch egal.“ Tatsächlich gehen Branchenbeobachter davon aus, dass Vertriebsgenie Göker im Auftrag anderer Makler indirekt für große Versicherungen arbeitet.
Es ist die alte Mischung aus Größenwahn und Unverfrorenheit Gökers, die auch diesen Film wieder faszinierend macht. Zwei Jahre lang hat Filmemacher Klaus Stern Mehmet Göker immer wieder in der Türkei begleitet, stößt mit der Kamera auch in intimste Lebensbereiche des Pleitiers vor. Auch wenn nicht immer ganz klar ist, was Realität und was für den Film sorgsam gewählte Inszenierung ist. Immerhin lässt Göker in den nächsten Tagen auch eine Biographie seiner selbst veröffentlichen, geschrieben vom Boris-Becker-Biographen, und legt es erkennbar auf öffentliche Inszenierung an.
Und doch legt der Film mehr offen, als er verklärt. Etwa als er Szenen zeigt, wie hochrangige Versicherungsmanager sich bei Göker anbiedern. Oder wie Göker sein Unternehmen mit seinen meist jungen Mitarbeitern führt. „Cem, es ist wie fast immer bei dir“, brüllt er einen jungen Mann nach einem Arbeitstag an. „Es ist konstant Sch...“. Und doch lieben ihn die meisten der jungen Männer, die er um sich schart, um sie nach seinem Vorbild zu formen.
Junge Männer bewundern Göker als Wegbereiter
Meist junge Männer mit schlechter Ausbildung aus deutschen Migranten-Familien, die in Göker den Wegbereiter für eine Zukunft sehen, an die sie lange nicht geglaubt haben – und deswegen den Bootcamp-artigen Alltag in Gökers türkischer Wohn- und Büro-Anlage hinnehmen.
Bei aller Großmäuligkeit aber kann der kamerafreudige Göker, der auch in der Türkei lebt, um sich einem EU-weiten Haftbefehl zu entziehen, den wahren Zustand von Befindlichkeit und Geschäft nicht wirklich vertuschen.
Es sind die eher leisen Zwischentöne des Films, die das ganze Breitbeintum Gökers entlarven: Dass er etwa in der ersten Hälfte Lamborghini fährt, in der zweiten eine gebrauchte Mercedes E-Klasse. Dass ihm ab Oktober 2014 die liquiden Mittel ausgehen und der sonst so abgebrühte Göker vor laufender Kamera panisch wird.
Es sind Szenen wie diese, die den Film zu einem Festspiel für kapitalistische Voyeure machen. Und zeigen, dass auch in diesem Fall dem Kasseler Regisseur Stern, wie in vielen Filmen zuvor, ein weiteres Mal gelungen ist, die Schwächen des Kapitalismus' und seiner Protagonisten aufs feinste zu sezieren.
Ausstrahlung "Versicherungsvertreter 2. Mehmet Göker macht weiter": Montag, 7. September, 23.15 Uhr, NDR