Bewegung und Hirnleistung „Gehen hilft uns geistig auf die Sprünge“

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Lernleistungen, Aufmerksamkeit, Kreativität

Nun sagen Sie, dass dem Menschen, sobald er sich auf Neues einlässt, also lernt, an „strategischer Stelle“ neue Nervenzellen hinzu wachsen. Gilt das womöglich auch für das Gehen?
Das wissen wir natürlich so genau nicht. Aber das Phänomen ist interessant: Die Anpassungsprozesse im Gehirn gehen so weit, dass wir eine Stimulierung der Nervenzellneubildung im Hippocampus beobachten können, der für das Lernen zuständig ist. Das ist eine Extremvariante: Da reagiert das Gehirn, wenn man körperlich aktiv ist, sogar auf der Ebene der Zellen mit Größenzunahme. Deshalb kann man vermuten, dass dies auch für das Gehen gilt, auch wenn ich das experimentell nicht direkt nachweisen kann. Aber der Gedanke liegt nah, das gesamte Gedankengebäude lässt diese Vermutung plausibel erscheinen.

Kann man denn allgemein sagen, dass körperliche Aktivität, vom Gehen bis zum Joggen, dem Denken förderlich ist?
Die Psychologen haben das rauf und runter untersucht, in etlichen Studien. Die lieben es ja, ausgebuffte Gedächtnis- und Orientierungstests zu machen, um die verschiedenen kognitiven Fähigkeiten bis ins Detail zu erfassen. Von daher wissen wir zum Beispiel, wie Gehirnjogging wirkt, also das gezielte Training des Gehirns, etwa durch Kreuzworträtsellösen: Der so genannte Transfer, also die Übertragbarkeit auf andere Lerngebiete, ist sehr gering – ein ineffizienter Weg, das Gehirn zu verbessern. Ganz im Gegenteil zu körperlicher Aktivität, die extrem transferiert: Da wird praktisch alles, was man misst, besser. Mit Einschränkungen natürlich, der Wortschatz erhöht sich nicht durch Jogging. Aber Gedächtnis- und Lernleistungen, Aufmerksamkeit, auch Kreativität profitieren von körperlicher Aktivität.

Welche Rolle spielen unsere Sinne? Müssen wir die fein aufeinander abstimmen, wenn wir auf zwei Beinen unterwegs sind?
So etwas schwebt mir vor: Dass wir es beim Gehen, wohlgemerkt nicht auf dem Laufband, sondern draußen in der Natur und möglichst noch im Gespräch, mit einer extrem komplexen Reiz-Welt zu tun haben, in der wir uns aktiv bewegen, also die Dinge nicht auf uns zukommen lassen, wie vorm Computer, sondern sie gehend erschließen und mit all unseren Sinneskanälen aufnehmen. Mit den Augen, den Ohren, der Haut, aber auch mit dem oft unterschätzten Sinn der Propriozeption, also der Eigenwahrnehmung des Körpers: Wie die Gelenke zueinander stehen, wie die Knochen sich bewegen, die Sehnen sich spannen. Vor allem: Was unsere Position im Raum ist. Wenn der Sinn dafür ausfällt, haben wir bekanntlich ein Problem.

Warum genügt das Laufband nicht?
Keine Ahnung. Vielleicht gibt es ja Leute, die sich lieber auf dem Laufband unterhalten als bei einem Spaziergang im Wald und ich kenne sie nur nicht. Es könnte übrigens auch sein, dass es für all die Dinge, die wir hier diskutieren, eine enttäuschend primitive biologische Erklärung gibt. Aber das glaube ich nicht. Ich glaube, dass es eine biologische Grundstruktur gibt, ein evolutionär sehr altes Grundprinzip, das sich bis heute erhalten hat und, wie so oft, vom Menschen für andere, „höhere“ Zwecke in verfeinerter Form weiter genutzt wird. Das zu untersuchen und zu verstehen ist natürlich total interessant.

Was weiß die Evolutionstheorie darüber, was den Menschen „ursprünglich“ bewegt? Sie sagen ja, das Gehirn sei ursprünglich für die Bewegung da...
...und Bewegung ist gut fürs Gehirn. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass Nervensysteme entstanden sind, um Bewegung zu ermöglichen, dann bedingt das ja immer wieder Rückkopplungseffekte. Denn Bewegung funktioniert nur dadurch, dass ich eine Sensorik zur Verfügung habe, die mir sagt: Wo bin ich hier eigentlich? Wie bewege ich mich hier gerade? In welchem Tempo? Und zu welchem Zweck? Das sind die Keimzellen, die Urzellen von Kognition. Positionsbestimmungen, Vorhersagen – darum geht es immer wieder, wenn man in physischen, aber auch in geistigen Räumen unterwegs ist.

Das Grundprinzip ist das gleiche?
Wahrscheinlich. Es könnte sein, dass unsere höheren kognitiven Leistungen auf der Grundlage dessen entstanden sind, dass wir uns einst handfest im physischen Raum orientieren mussten. Aus der Antike gibt es ein schönes Beispiel, wie wir uns in geistigen Räumen orientieren. Die alten Rhetoren stellten sich, um ihre Reden aus dem Gedächtnis abrufen zu können, vielräumige Gebäude vor, wo sie an verschiedenen Stellen ihre Rede-Inhalte ablegten. Beim Reden gingen sie die vorgestellten Gebäude im Geiste ab und nahmen die Inhalte wieder auf.

Die Methode wird heute noch empfohlen.
Ja, wir übersetzen Informationen gern in eine räumliche Struktur. Der berühmte Neurologe Howard Eichenbaum, der sich vor allem mit Lernprozessen befasst, hat einmal mit Blick auf den Hippocampus gefragt: „Is it for memory of space or a space for memory?“ Der Hippocampus sei beides, antwortete Eichenbaum. Ursprünglich war er wohl ein Mechanismus, um den Raum abzubilden und Inhalte, die den Raum betreffen, zu erfassen. Mittlerweile benutzen wir die gleiche Struktur, um uns viel umfangreichere, komplexere Inhalte zu verdeutlichen. Spekulativ könnte dies also heißen, dass all das, was da an archaischen Mechanismen in uns angelegt ist, letztlich dazu dient, uns zu vervollkommnen und gleichsam höhere geistige Weihen zu erlangen. So könnte auch das Gehen seinen guten, tieferen Sinn haben, könnte Bewegung insgesamt gut für das Gehirn, für die Gesamtheit unserer kognitiven Leistungen sein.

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