Boris Johnson Jetzt soll ihn das „Brexit-Freiheits-Gesetz“ retten

Die britische Bevölkerung ist wütend, Boris Johnson grüßt freundlich. Quelle: Bloomberg

Boris Johnson versinkt immer tiefer im Sumpf um Lockdown-Partys in seinem Amtssitz. Eine eilig zusammengeschusterte Brexit-Initiative soll seine Abgeordneten davon abhalten, ihn aus dem Amt zu putschen.

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Boris Johnson versucht, seine Abgeordneten bei Laune zu halten. Dazu hat Großbritanniens skandalgeschüttelter Premier allen Grund: Schon seit Wochen kommen immer mehr Details über illegale Lockdown-Partys in der Downing Street ans Tageslicht. Nun hat sich sogar die Polizei eingeschaltet und ermittelt, ob Mitarbeiter des Amtssitzes des Premiers in mindestens zwölf Fällen mit verbotenen Zusammenkünften und Partys Gesetze gebrochen haben. Bei mehreren dieser Feiern soll Johnson anwesend gewesen sein. Eine von ihnen soll sich in seiner Dienstwohnung abgespielt haben. Das Motto dieser Party: Abba.

Die Bevölkerung ist wütend. In einer Umfrage sprachen sich rund zwei Drittel der Befragen für Johnsons Rücktritt aus. Selbst 38 Prozent der befragten Tory-Wähler finden, Johnson solle gehen.

Doch der denkt gar nicht daran. Stattdessen startet Johnson derzeit ein Manöver nach dem anderen, um seine Abgeordneten zu besänftigen. Schließlich könnten die ihm das Vertrauen entziehen und ihn aus dem Amt jagen. So kündigte die Regierung vergangene Woche überraschend an, die Rundfunkgebühren in den kommenden zwei Jahren einzufrieren. Vor allem der rechte Rand der Tory-Partei stört sich schon lange am angeblich unzureichenden Patriotismus der BBC. Und im Ärmelkanal soll in Zukunft die Marine Flüchtlinge davon abhalten, in Schlauchbooten nach England überzusetzen.

Lesen Sie auch: Eingefrorene Rundfunkgebühren und Marineeinsätze gegen Flüchtlinge: Boris Johnsons absurdes letztes Gefecht

Anfang der Woche kam dann eine weitere Initiative hinzu: Johnson kündigte ein Gesetz an, das endlich die vielen angeblichen Vorzüge des Brexit entfachen soll: Das „Brexit-Freiheits-Gesetz“ soll es der Regierung tatsächlich ermöglichen, „überholte“ EU-Gesetze aus der Zeit der britischen EU-Mitgliedschaft ohne großen Aufwand zu ändern oder aufzuheben. Das soll, laut der Regierung, den Unternehmen des Landes eine Milliarde Pfund an Bürokratiekosten einsparen, „regulatorische Belastungen verringern“ sowie „das Land vereinen“ und wirtschaftlich voranbringen.

„Nachdem wir unsere Unabhängigkeit wiedererlangt haben, können wir nun sicherstellen, dass unsere Vorschriften auf die Bedürfnisse des Vereinigten Königreichs zugeschnitten sind“, heißt es in einer Regierungserklärung. Aktuell könne das jedoch „mehrere Jahre lang dauern“, da in vielen Fällen das Parlament über die angestrebten Änderungen ehemaliger EU-Gesetze abstimmen müsse. Minister sollen das in Zukunft ohne großen Aufwand selbst erledigen können. „Damit das Vereinigte Königreich schneller von den Brexit-Freiheiten profitieren kann.“

Die Erklärung erinnert nicht ohne Grund an die seichte Rhetorik der Pro-Brexit-Kampagnen vor dem EU-Referendum 2016. Schließlich war Boris Johnson das öffentliche Gesicht der „Vote Leave“-Kampagne. So ist die Rede von einem „aufregenden neuen Kapitel für unser Land“, von den „neugewonnen Freiheiten“ und von „Souveränität“. Das geplante Gesetz werde „die Vorzüge des Brexit weiter entfesseln“.

Es folgt eine überschaubare Liste von Beispielen: Die Rücknahme der EU-Gesetze soll Bereiche wie die Künstliche Intelligenz vorantreiben und den Umgang mit Daten vereinfachen. „Überholte Fahrzeugstandards“ sollen modernisiert werden, ebenso Vorschriften für klinische Studien in der Medizin und für medizinische Geräte. Die Wirtschaft des Landes soll durch ein eigenes Subventionsregime gefördert werden. Und das „globale Britannien“ soll „das Beste aus einer beispiellosen Gelegenheit machen, neue Allianzen zu schmieden und unsere Partnerschaften auf der ganzen Welt zu stärken“.

Die Erklärung wirkt hastig zusammengeworfen. Konkrete Inhalte: Fehlanzeige. Wie genau sollen britische Unternehmen eine Milliarde Pfund an bürokratischen Kosten einsparen? Woher stammt diese Zahl? Wieso sollten ausgerechnet die Hersteller medizinischer Produkte und Geräte von EU-Standards abweichen wollen – wenn diese Standards heute in vielen Bereichen globalen Standards gleichkommen? Das Gleiche gilt für Fahrzeugstandards. Und wie möchte London verhindern, dass Brüssel etwas dagegen unternimmt, wenn staatlich geförderte britische Unternehmen drohen, europäischen Konkurrenten Geschäft wegzunehmen?

Entsprechend kühl wurde die Ankündigung im Land aufgenommen. Die großen Wirtschaftsverbände des Landes reagierten auf die Ankündigung gar nicht, ebenso die Gewerkschaften. Die Wirtschaftssprecherin der Liberaldemokraten, Sarah Olney, kommentierte den Vorstoß so: „Wenn dies das Beste ist, was Boris Johnson aufbringen kann, um seinen Job zu retten, dann steckt er in großen Schwierigkeiten. Versuchen Sie, den Tausenden von Lkw-Fahrern, die in Dover in Warteschlangen festsitzen, zu sagen, dass Bürokratie abgebaut wird.“

Denn in Wirklichkeit hat der Brexit den bürokratischen Aufwand für Unternehmen, die mit Kunden in der EU Handel treiben, bislang massiv erhöht. Der reibungslose Warenverkehr zwischen dem europäischen Festland und Großbritannien gehört der Vergangenheit an, da das Land den Binnenmarkt und die Zollunion verlassen hat. Derzeit stauen sich an den Grenzhäfen zur EU die Lkw, da zum Jahreswechsel zusätzliche Auflagen in Kraft getreten sind. Britische Unternehmen klagen über Probleme in den Lieferketten. Viele europäische Unternehmen haben britische Zulieferer durch europäische vom Festland ersetzt.

Der Handel zwischen Großbritannien und der EU ist zuletzt deutlich zurückgegangen. Einer Umfrage der British Chambers of Commerce (BCC) zufolge berichten derzeit 60 Prozent der befragten Exporteure von Schwierigkeiten beim Handel mit der EU. Vor einem Jahr waren es 49 Prozent.

Mehr noch: Ein kürzlich unterzeichnetes Handelsabkommen mit Australien, das Johnsons Regierung über den grünen Klee lobt, dürfte der britischen Wirtschaft in den kommenden 15 Jahren ein Wachstum von geschätzt 0,01 bis 0,02 Prozent bringen. Für britische Landwirte könnte es dagegen verheerende Folgen haben, da in Zukunft australische landwirtschaftliche Erzeugnisse, die niedrigeren Auflagen unterliegen, den britischen Markt überschwemmen könnten.

Die Behörde für Haushaltsverantwortung geht einstweilen davon aus, dass der Brexit Großbritannien langfristig noch stärker belasten wird als die Covid-Pandemie. Behördenchef Richard Hughes sagte der BBC, er gehe davon aus, dass der Brexit das potenzielle Wirtschaftswachstum des Landes um vier Prozent dämpfen werde.

Das geplante „Brexit-Freiheits-Gesetz“ wirft derweil weitere schwerwiegende Fragen auf. Und das nicht nur hinsichtlich der Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Justiz. Auch die „Devolution“, also die Verlagerung von Kompetenzen an die Regierungen in Schottland, Wales und Nordirland, könnte in Mitleidenschaft gezogen werden, wenn die Regierung in London plötzlich damit beginnen würde, Gesetze eigenmächtig abzuändern oder aufzuheben.

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Der schottische Kulturminister Angus Robertson beklagte, der Vorstoß in London sei „mit wenig Diskussion, Konsultation oder Respekt vor dem schottischen Parlament und der schottischen Regierung“ erfolgt. Die Regierung in London habe ihre Pläne für das geplante Gesetz über das Wochenende „eilig“ vorangetrieben und die Landesregierung in Edinburgh nur kurzfristig und vage dazu unterrichtet.

Schottlands Separatisten dürften sich über den hastigen Vorstoß der britischen Regierung und über das Chaos in London freuen. Boris Johnson ist in Schottland seit jeher ausgesprochen unbeliebt. In einigen Umfragen nimmt die Zahl der Befürworter einer schottischen Unabhängigkeit derzeit wieder zu.

Mehr zum Thema: Die Regierung in London friert die Rundfunkgebühren ein und will die Marine gegen Flüchtlinge einsetzen. Will der angeschlagene Premier Boris Johnson so verzweifelt seine politische Laufbahn retten?

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