Flüchtlingspolitik Wie die Türkei unter der Flüchtlingskrise leidet

Die Hauptlast der Flüchtlingskrise trägt die Türkei. Erst langsam stellt sich das Land der Realität und beginnt die Einwanderer zu integrieren. Die EU sollte das Land dabei besser unterstützen.

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Angela Merkel mit dem türkische Premierminister Davutoğlu. Quelle: dpa

Am Montag war Bundeskanzlerin Merkel schon wieder in der Türkei; gerade erst hatten deutsch-türkische Regierungskonsultationen in Berlin stattgefunden. Kein Wunder - denn die Türkei ist das Schlüsselland in der Flüchtlingskrise. Hinter der syrischen Grenze im Süden tobt der Bürgerkrieg. An der Küste im Westen setzen mit Flüchtlingen beladene Schlauchboote auf die griechischen Inseln über. Letzter Stop Deutschland. Im vergangenen Jahr überquerten so 850.000 Menschen die Ägäis. Der türkische Premierminister Davutoğlu warnte davor, in der Flüchtlingskrise Verantwortung auf andere abzuwälzen. „Das Problem kann die Türkei alleine nicht bewältigen. Wir müssen das gemeinsam lösen.“ Er hat Recht.

Über das Mittelmeer nach Europa: Zahlen zu Flüchtlingen

Während sich Merkel und Davutoğlu in Ankara austauschten, spielt sich ein paar hundert Kilometer südlich ein erneutes Drama ab. Seit Tagen sind Assad-Truppen mit Hilfe der russischen Luftwaffe dabei, die Stadt Aleppo einzukesseln. Die Stadt in Nordsyrien ist eine der letzten Hochburgen der mit dem Westen verbündeten Rebellen. Seit die Bombardements begannen, sind 80000 Menschen auf der Flucht. Theoretisch könnten es bald 350.000 werden. Andere Schätzungen gehen gar von 1,5 Millionen Menschen aus.

Zehntausende Flüchtlinge an der türkischen Grenze

Nach den Wellen vom vergangenen Sommer könnte also bald ein neuer Flüchtlingsstrom Richtung Europa unterwegs sein.

Bisher aber stauen sich zehntausende Flüchtlinge an der türkischen Grenze. Die Stadt Kilis hat bereits 130.000 Flüchtlinge aufgenommen - so viele wie es Einwohner hat. Jetzt entsteht vor der Grenze auf der syrischen Seite ein notdürftiges Flüchtlingscamp. Das kommt dem, was die Türkei seit langem fordert, schon recht nahe: eine militärisch gesicherte Pufferzone auf syrischem Boden. Eine Lösung aber ist das Lager nicht. Die Menschen dort aber wollen weiter über die Grenze - zu schlecht sind die Bedingungen südlich der Grenze, zu unsicher die Lage.

Was Flüchtlinge dürfen

Die Türkei soll nun einerseits die Grenzen nach Syrien offen halten, um eine humanitäre Katastrophe vermeiden. Gleichzeitig aber soll sie den Flüchtlingsstrom nach Europa unterbinden, und seine Grenzen Richtung Griechenland besser sichern. Drei Milliarden Euro hat die EU der Türkei dafür versprochen. Laut türkischen Regierungsangaben wurden seitdem 3.700 Schmuggler verhaftet. Taxifahrer in Izmir machen sich strafbar, wenn sie Syrer zur Küste bringen. Die drei Milliarden sind da eher ein marginaler Beitrag. Die Regierung in Ankara hat allein acht Milliarden Euro für Unterkünfte und Ausbildung der Flüchtlinge gezahlt. Mehr Geld ist notwendig.

Rund drei Millionen Flüchtlinge, 2,5 Millionen von ihnen aus Syrien, leben in der Türkei. Das ist die größte Flüchtlingsbevölkerung weltweit. Die Syrer machen fast drei Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Über die Hälfte von ihnen sind jünger als 18 Jahre. Viele von ihnen haben seit Jahren keine Schule besucht. Die Menschen nehmen nicht nur durch Neuankömmlinge zu - in den Flüchtlingslagern wurden seit Beginn des Kriegs 62.000 Kinder geboren. Andere Schätzungen gehen von 200.000 aus.

Politik stellt sich langsam der Realität

Eine Integrationspolitik aber gibt es so gut wie nicht. Der Großteil der Syrer lebt in Lagern, andere leben und arbeiten illegal in den türkischen Großstädten als Müllsammler, Kebab-Verkäufer oder betteln. Die türkische Gesellschaft nimmt das zwar nicht mit Jubel, aber mit beeindruckenden Gleichmut hin.

Erst langsam stellt sich die Politik der Realität. Denn auch wenn der Konflikt in Syrien eines Tages beigelegt sein wird - längst nicht alle von ihnen werden in ihre Heimat zurückkehren. Das wird im fünftem Jahr des Krieges auch der Regierung in Ankara klar.

So viel Geld bekommen Flüchtlinge in den europäischen Ländern

Seit Anfang dieses Jahres dürfen Syrer in der Türkei eine Arbeitserlaubnis beantragen. Die türkische Wirtschaft wächst zwar nicht mehr so stark wie in den Boom-Jahren von 2002 und 2007, in denen das BIP um durchschnittlich 6,8 Prozent zulegte. Für dieses Jahre werden nur noch knapp drei Prozent erwartet. Schon jetzt drängen jedes Jahr 500.000 Arbeitskräfte auf den Markt und werden dort kaum absorbiert. Die Arbeitslosigkeit liegt bei rund zehn Prozent. Trotzdem braucht vor allem die Landwirtschaft Arbeitskräfte. Besonders Schafhirten seien laut einer Studie der Vereinigung türkischer Unternehmer dringend gesucht.

Viele Unternehmen umgehen Mindestlohn

Die Legalisierung war dringend notwendig. Viele Unternehmer beklagten den unfairen Wettbewerb, der dadurch entstanden war, dass viele Unternehmen illegal Syrer beschäftigten und so den gesetzlichen Mindestlohn umgingen. Der wurde gerade zu Beginn des Jahres auf von 1000 auf 1300 Türkische Lira angehoben, etwas mehr als 400 Euro. Viele Unternehmer sprechen sich auch dafür aus, dringend in die Ausbildung der Migranten zu investieren. Sonst droht dem Land langfristig eine neue ungebildete Unterschicht - anfällig für Islamismus und Kriminalität.

Doch auch Integrationsprogramme werden nicht alle aufhalten. Noch immer überqueren 3000 Menschen jeden Tag die Ägäis - pro Tag. Mit dem Fall von Aleppo und dem nahendem Frühling werden es bald wieder mehr werden. Geschlossene Grenzen werden daran nicht viel ändern.

Die Flüchtlingskrise ist keine deutsche, türkische oder syrische, sie ist eine internationale - und nur durch internationale Zusammenarbeit wird sie gelöst werden können.

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