Am Montag war Bundeskanzlerin Merkel schon wieder in der Türkei; gerade erst hatten deutsch-türkische Regierungskonsultationen in Berlin stattgefunden. Kein Wunder - denn die Türkei ist das Schlüsselland in der Flüchtlingskrise. Hinter der syrischen Grenze im Süden tobt der Bürgerkrieg. An der Küste im Westen setzen mit Flüchtlingen beladene Schlauchboote auf die griechischen Inseln über. Letzter Stop Deutschland. Im vergangenen Jahr überquerten so 850.000 Menschen die Ägäis. Der türkische Premierminister Davutoğlu warnte davor, in der Flüchtlingskrise Verantwortung auf andere abzuwälzen. „Das Problem kann die Türkei alleine nicht bewältigen. Wir müssen das gemeinsam lösen.“ Er hat Recht.
Über das Mittelmeer nach Europa: Zahlen zu Flüchtlingen
Trotz der lebensgefährlichen Fahrt über das Mittelmeer wagen viele Tausend Menschen die Flucht nach Europa. 219.000 Menschen flohen laut Flüchtlingshilfswerk UNHCR 2014 über das Mittelmeer nach Europa; 2015 waren es bis zum 20. April 35.000.
3.500 Menschen kamen 2014 bei ihrer Flucht ums Leben oder werden vermisst; im laufenden Jahr sind es bis zum 20. April 1600.
170.100 Flüchtlinge erreichten 2014 über das Meer Italien (Januar bis März 2015: mehr als 10.100); weitere 43.500 kamen nach Griechenland, 3.500 nach Spanien, 570 nach Malta und 340 nach Zypern.
66.700 Syrer registrierte die EU-Grenzschutzagentur Frontex 2014 bei einem illegalen Grenzübertritt auf dem Seeweg, 34.300 Menschen kamen aus Eritrea, 12.700 aus Afghanistan und 9.800 aus Mali.
191.000 Flüchtlinge stellten 2014 in der EU einen Asylantrag (dabei wird nicht unterschieden, auf welchem Weg die Flüchtlinge nach Europa kamen). Das sind EU-weit 1,2 Asylbewerber pro tausend Einwohner.
...beantragten 2014 in der EU Asyl (2013: 50.000).
202.700 Asylbewerber wurden 2014 in Deutschland registriert (32 Prozent aller Bewerber), 81.200 in Schweden (13 Prozent) 64.600 in Italien (10 Prozent), 62.800 in Frankreich (10 Prozent) und 42.800 in Ungarn (7 Prozent).
Um 143 Prozent stieg die Zahl der Asylbewerber im Vergleich zu 2013 in Italien, um 126 Prozent in Ungarn, um 60 Prozent in Deutschland und um 50 Prozent in Schweden.
Mit 8,4 Bewerbern pro tausend Einwohner nahm Schweden 2014 im Verhältnis zur Bevölkerung die meisten Flüchtlinge auf. Es folgten Ungarn (4,3), Österreich (3,3), Malta (3,2), Dänemark (2,6) und Deutschland (2,5).
600.000 bis eine Million Menschen warten nach Schätzungen der EU-Kommission allein in Libyen, um in den nächsten Monaten die Überfahrt nach Italien oder Malta zu wagen.
Während sich Merkel und Davutoğlu in Ankara austauschten, spielt sich ein paar hundert Kilometer südlich ein erneutes Drama ab. Seit Tagen sind Assad-Truppen mit Hilfe der russischen Luftwaffe dabei, die Stadt Aleppo einzukesseln. Die Stadt in Nordsyrien ist eine der letzten Hochburgen der mit dem Westen verbündeten Rebellen. Seit die Bombardements begannen, sind 80000 Menschen auf der Flucht. Theoretisch könnten es bald 350.000 werden. Andere Schätzungen gehen gar von 1,5 Millionen Menschen aus.
Zehntausende Flüchtlinge an der türkischen Grenze
Nach den Wellen vom vergangenen Sommer könnte also bald ein neuer Flüchtlingsstrom Richtung Europa unterwegs sein.
Bisher aber stauen sich zehntausende Flüchtlinge an der türkischen Grenze. Die Stadt Kilis hat bereits 130.000 Flüchtlinge aufgenommen - so viele wie es Einwohner hat. Jetzt entsteht vor der Grenze auf der syrischen Seite ein notdürftiges Flüchtlingscamp. Das kommt dem, was die Türkei seit langem fordert, schon recht nahe: eine militärisch gesicherte Pufferzone auf syrischem Boden. Eine Lösung aber ist das Lager nicht. Die Menschen dort aber wollen weiter über die Grenze - zu schlecht sind die Bedingungen südlich der Grenze, zu unsicher die Lage.
Was Flüchtlinge dürfen
Wer eine sogenannte Aufenthaltsgestattung bekommt, darf nach drei Monaten in Deutschland eine betriebliche Ausbildung beginnen. Wer geduldet ist, kann vom ersten Tag an eine Ausbildung machen. In beiden Fällen ist jedoch eine Erlaubnis durch die Ausländerbehörde nötig.
Gleiches gilt für Praktika oder den Bundesfreiwilligendienst beziehungsweise ein freiwilliges, soziales Jahr: Personen mit Aufenthaltsgestattung können nach drei Monaten ohne Zustimmung der ZAV damit beginnen, wer den Status „geduldet“ hat, darf das ab dem ersten Tag.
Wer studiert hat und eine Aufenthaltsgestattung besitzt, darf ohne Zustimmung der ZAV nach drei Monaten eine dem Abschluss entsprechende Beschäftigung aufnehmen, wenn sie einen anerkannten oder vergleichbaren ausländischen Hochschulabschluss besitzen und mindestens 47.600 Euro brutto im Jahr verdienen werden oder einen deutschen Hochschulabschluss besitzen (unabhängig vom Einkommen).
Personen mit Duldung können dasselbe bereits ab dem ersten Tag des Aufenthalts.
Personen mit Aufenthaltsgestattung können nach vierjährigem Aufenthalt jede Beschäftigung ohne Zustimmung der ZAV aufnehmen.
Die Türkei soll nun einerseits die Grenzen nach Syrien offen halten, um eine humanitäre Katastrophe vermeiden. Gleichzeitig aber soll sie den Flüchtlingsstrom nach Europa unterbinden, und seine Grenzen Richtung Griechenland besser sichern. Drei Milliarden Euro hat die EU der Türkei dafür versprochen. Laut türkischen Regierungsangaben wurden seitdem 3.700 Schmuggler verhaftet. Taxifahrer in Izmir machen sich strafbar, wenn sie Syrer zur Küste bringen. Die drei Milliarden sind da eher ein marginaler Beitrag. Die Regierung in Ankara hat allein acht Milliarden Euro für Unterkünfte und Ausbildung der Flüchtlinge gezahlt. Mehr Geld ist notwendig.
Rund drei Millionen Flüchtlinge, 2,5 Millionen von ihnen aus Syrien, leben in der Türkei. Das ist die größte Flüchtlingsbevölkerung weltweit. Die Syrer machen fast drei Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Über die Hälfte von ihnen sind jünger als 18 Jahre. Viele von ihnen haben seit Jahren keine Schule besucht. Die Menschen nehmen nicht nur durch Neuankömmlinge zu - in den Flüchtlingslagern wurden seit Beginn des Kriegs 62.000 Kinder geboren. Andere Schätzungen gehen von 200.000 aus.
Politik stellt sich langsam der Realität
Eine Integrationspolitik aber gibt es so gut wie nicht. Der Großteil der Syrer lebt in Lagern, andere leben und arbeiten illegal in den türkischen Großstädten als Müllsammler, Kebab-Verkäufer oder betteln. Die türkische Gesellschaft nimmt das zwar nicht mit Jubel, aber mit beeindruckenden Gleichmut hin.
Erst langsam stellt sich die Politik der Realität. Denn auch wenn der Konflikt in Syrien eines Tages beigelegt sein wird - längst nicht alle von ihnen werden in ihre Heimat zurückkehren. Das wird im fünftem Jahr des Krieges auch der Regierung in Ankara klar.
So viel Geld bekommen Flüchtlinge in den europäischen Ländern
800 Euro zahlt das Land im Monat pro Flüchtling. Die Summe muss allerdings versteuert werden.
Quelle: EU-Kommission / Frontex, Stand: 18. September 2015
Die Spanne, die der Inselstaat für einen Asylbewerber zahlt, liegt zwischen 85 und 452 Euro pro Monat.
400 Euro pro Flüchtling / Monat.
352 Euro pro Flüchtling / Monat.
330,30 Euro pro Flüchtling / Monat.
zwischen 85 und 290 Euro pro Flüchtling / Monat.
zwischen 176 und 276 Euro pro Flüchtling / Monat.
232 Euro pro Flüchtling / Monat.
225 Euro pro Flüchtling / Monat.
187 Euro pro Flüchtling / Monat.
177 Euro pro Flüchtling / Monat.
66 Euro pro Flüchtling / Monat.
33,23 Euro pro Flüchtling / Monat.
20 Euro pro Flüchtling / Monat.
18 Euro pro Flüchtling / Monat.
12 Euro pro Flüchtling / Monat.
0 Euro pro Flüchtling / Monat.
Seit Anfang dieses Jahres dürfen Syrer in der Türkei eine Arbeitserlaubnis beantragen. Die türkische Wirtschaft wächst zwar nicht mehr so stark wie in den Boom-Jahren von 2002 und 2007, in denen das BIP um durchschnittlich 6,8 Prozent zulegte. Für dieses Jahre werden nur noch knapp drei Prozent erwartet. Schon jetzt drängen jedes Jahr 500.000 Arbeitskräfte auf den Markt und werden dort kaum absorbiert. Die Arbeitslosigkeit liegt bei rund zehn Prozent. Trotzdem braucht vor allem die Landwirtschaft Arbeitskräfte. Besonders Schafhirten seien laut einer Studie der Vereinigung türkischer Unternehmer dringend gesucht.
Viele Unternehmen umgehen Mindestlohn
Die Legalisierung war dringend notwendig. Viele Unternehmer beklagten den unfairen Wettbewerb, der dadurch entstanden war, dass viele Unternehmen illegal Syrer beschäftigten und so den gesetzlichen Mindestlohn umgingen. Der wurde gerade zu Beginn des Jahres auf von 1000 auf 1300 Türkische Lira angehoben, etwas mehr als 400 Euro. Viele Unternehmer sprechen sich auch dafür aus, dringend in die Ausbildung der Migranten zu investieren. Sonst droht dem Land langfristig eine neue ungebildete Unterschicht - anfällig für Islamismus und Kriminalität.
Doch auch Integrationsprogramme werden nicht alle aufhalten. Noch immer überqueren 3000 Menschen jeden Tag die Ägäis - pro Tag. Mit dem Fall von Aleppo und dem nahendem Frühling werden es bald wieder mehr werden. Geschlossene Grenzen werden daran nicht viel ändern.
Die Flüchtlingskrise ist keine deutsche, türkische oder syrische, sie ist eine internationale - und nur durch internationale Zusammenarbeit wird sie gelöst werden können.