Gewalt in der Südosttürkei Wenn sogar um Tote gekämpft wird

Nicht einmal die Toten bleiben vom Kurdenkonflikt in der Türkei verschont. Ein neues Gesetz macht es Kurden in den Gebieten unter Ausgangssperre so gut wie unmöglich, ihre Angehörigen zu beerdigen. Die Wut ist groß.

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Chalid Inan hat mit einem Seil versucht, seine angeschossene Frau auf das Grundstück zu ziehen. Vergeblich. Quelle: dpa

Silopi Siyasin Buruntekin hat gerade das erste Mal das Grab ihrer Tante in der Stadt Silopi besucht, jetzt ringt die 34-jährige Kurdin mit den Tränen. Sie erzählt, ihre Tante Ayse Buruntekin sei zu Nachbarn gegangen, weil ihr während der Ausgangssperre die Milch für ihr Baby ausgegangen sei. Türkische Sicherheitskräfte hätten der 40-Jährigen in den Hals geschossen. Die Nichte ist entsetzt. „Die Polizei hat ihre Leiche begraben, ohne die Familie zu informieren“, sagt sie. Grundlage dafür ist ein neues Gesetz, das die verbreitete Wut auf den Staat in den Kurdengebieten weiter befeuert.

Die Gesetzesänderung trat am 7. Januar in Kraft, inmitten der teils noch heute andauernden Ausgangssperren in mehreren kurdischen Städten. Grund für die Ausgangssperren ist eine Armeeoffensive gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK. Kämpfer der PKK-Jugendorganisation YDG-H haben sich in mehreren Städten verschanzt. Das neue Gesetz erlaubt den Behörden, Leichen binnen drei Tagen ohne Zeremonie zu beerdigen, wenn die Angehörigen sie nicht abholen – selbst wenn die Identität der Toten feststeht.

Die Regierung dürfte damit verhindern wollen, dass Beerdigungen von YDG-H-Kämpfern zu Sympathiebekundungen ausarten. Der Konflikt hat seit Beginn der Offensive Mitte Dezember aber auch viele Zivilisten das Leben gekostet. Kurden in den Städten unter Ausgangssperre haben so gut wie keine Möglichkeit, ihre Angehörigen aus den Leichenhäusern abzuholen, wenn sie nicht selber ihr Leben riskieren wollen.

Siyasin Buruntekin sagt, ihre Familie sei von der Polizei nicht einmal darüber benachrichtigt worden, wo die Tote begraben worden sei. Anwohner in der Nähe des Friedhofs hätten die Beerdigung aus ihren Häusern heraus beobachtet und die Familie informiert. Die Wut über den Umgang mit der Toten ist Siyasin Buruntekin anzumerken. „Erdogan ist persönlich dafür verantwortlich“, sagt die Kurdin mit Blick auf den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan. „Ich kann mich nicht mehr als Bürger dieses Landes fühlen.“

Wut auf den Staat herrscht auch bei der Familie von Taybet Inan in Silopi. Seine 57-Jährige Ehefrau sei auf dem Rückweg von Nachbarn auf der anderen Straßenseite gewesen, als sie wenige Meter vor dem Tor ihres Hauses ins Bein getroffen worden sei, sagt Chalid Inan (60). Er habe versucht, seiner Frau ein Seil zuzuwerfen, um sie auf das Grundstück zu ziehen – ohne Erfolg. „Sie war noch bis zum nächsten Tag am Leben“, sagt Chalid Inan. „Sie rief immer wieder: Kommt nicht raus, kommt nicht raus, sonst werdet Ihr auch getötet“.

Chalids Bruder Abdullah Inan erzählt, er habe einen Abgeordneten der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP kontaktiert, der einen Krankenwagen für die Verletzte organisiert habe, die hilflos auf der Straße gelegen habe. „Am Eingang der Straße hat die Polizei den Krankenwagen gestoppt.“ Der Bruder sagt, danach habe er bei der Polizei angerufen. „Die Polizisten fragten nach der Adresse. Nachdem ich ihnen die Adresse gab, wurde das Haus beschossen.“

Erst nach acht Tagen wurde die Tote geborgen, wie Abdullah Inan sagt. „Dann hat die Polizei die Leiche aus dem Leichenhaus geschafft.“ Polizisten hätten ihn angerufen, auf das neue Gesetz verwiesen und die Beerdigung von Taybet Inan angekündigt.

Acht Angehörigen aus einem Dorf ohne Ausgangssperre sei die Teilnahme erlaubt worden – aber niemandem aus der Stadt. Auch ihr Ehemann konnte sich nicht verabschieden. „Die Polizei hat das Grab ausgesucht“, sagt Abdullah Inan empört. „Sie wurde unter Kontrolle der Polizei begraben.“ Ein Cousin namens Hassan Inan sagt: „Sie erlauben uns nicht einmal, unsere Toten zu beerdigen.“

Güler Seviktek hat die Rückgabe der Leiche ihres 25-jährigen Bruders mit einem fast dreiwöchigen Hungerstreik erzwungen. Mesut Seviktek hat im Viertel Sur in der Kurdenmetropole Diyarbakir für die YDG-H gekämpft, wo seit dem zweiten Dezember eine Ausgangssperre gilt. Am 23. Dezember wurde er getötet. „Warum gibt der Staat die Leichen nicht zurück?“, fragte Güler Seviktek noch während ihres Hungerstreiks. Das neue Gesetz sei „nur gegen die Kurden“ gerichtet, meint sie. „Sie haben sogar Angst vor unseren Toten.“

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