Die Regale im "Trader Joe’s", einem kleinen Supermarkt mit einer bunten Auswahl an Konserven, Biolebensmitteln und Weinen, sind leergefegt. Wasser, Eistee und Milch gibt es schon seit zwei Tagen nicht mehr. Auch Batterien und Hundefutter sind inzwischen ausverkauft. So wie in dem Laden in der North Asaph Street in Alexandria, einem Vorort der Hauptstadt Washington, D.C., sieht es an der gesamten US-Ostküste aus. Gut 50 Millionen Menschen zwischen New York und Atlanta fürchten, Opfer von Hurrikan "Sandy" zu werden. Mehrere Bundesstaaten riefen den Notstand aus. In Washington, New York und vielen anderen Städten ruht der öffentliche Nahverkehr.
Die Bürger reagieren, hamstern Einkäufe und verbarrikadieren sich. Sie wissen: Selbst wenn der Hurrikan abseits ihres Wohnortes auf Land trifft, drohen tagelange Stromausfälle, Überschwemmungen und Verkehrschaos. Zu marode ist die Infrastruktur des Landes. „Viele Städte und Gemeinden sind in einem beklagenswerten Zustand“, sagt Martin Thunert, Dozent und Politikwissenschaftler am „Center for American Studies“ der Universität Heidelberg. „Das fängt bei den oberirdischen Stromleitungen an, geht über baufällige Schulen und endet bei einsturzgefährdeten Brücken.“
Zahlen bestätigen Thunerts Aussage: Ein Drittel aller Hauptstraßen sind laut einem Gutachten des US-Ingenieurverbandes "American Society of Civil Engineers" in keinem guten Zustand, 36 aller städtischen Autobahnen gelten als ständig überlastet. Viele öffentliche Schulen sind dringend sanierungsbedürftig, die Stromversorgung ist wegen der oberirdisch liegenden Kabel extrem anfällig. Und: Mehr als ein Viertel der 600.000 Brücken im Land gelten nicht mehr als bedingungslos sicher, 160.000 gelten sogar als einsturzgefährdet.
Die größten Infrastruktur-Mängel in den USA
Das Straßenbild der USA ist gezeichnet von Schlaglöchern und Rissen im Asphalt. 36 Prozent der Autobahnen sind durchweg überlastet.
Der Zug gilt in den USA als unzuverlässiges Fortbewegungsmittel. Reisende erreichen ihr Ziel nur bei 77 Prozent der Fahrten pünktlich. Zum Vergleich: in Europa sind es 90 Prozent. Außerdem gibt es kein gut ausgebautes Hochgeschwindigkeitsnetz. Schnellzüge fahren somit im Schnitt nur 115 Kilometer pro Stunde.
Auch bei Flügen ist in den USA mit Verspätungen zu rechnen. Die Flughäfen sind überaltert und überlastet. Drei Prozent der Start- und Landebahnen sind im schlechten Zustand.
Einige der Brücken in den USA gelten nicht nur als überaltert, sondern als gefährlich. Von rund 600.000 Brücken sind 160.000 einsturzgefährdet.
Auch die Staudämme der USA weisen Sicherheitsmängel auf. Ihr Durchschnittsalter beträgt 51 Jahre. Erschreckend sind die Wartungsverhältnisse: In Texas kommen auf 7400 Staudämme lediglich sieben überwachende Ingenieure.
Für die Sanierung von Schulgebäuden investieren die USA zu wenig. Im Jahre 2005 fand der Unterricht von 37 Prozent aller Schulen in improvisierten Klassenräumen aus Fertigbauteilen statt.
Das Stromnetz der Vereinigten Staaten ist marode. Das Risiko von Stromausfällen, verursacht durch Stürme und herabfallende Äste, ist so groß, dass Elektrizitätswerke den US-Bürgern zum Kauf eines eigenen Generators raten.
Die Wasserleitungen der USA zeichnen sich durch ihr Alter von 60 Jahren und die Defekte aus. Knapp 30 Millionen Liter Wasser versickern täglich in der Erde. Auch die Wasserwerke sind veraltet und sanierungsbedürftig.
„Die USA haben riesigen Investitionsbedarf. Doch die Politik blockiert sich", erklärt Geoffrey Skelley, Politikwissenschaftler an der „University of Virginia“. „Die Republikaner glauben, dass die Erneuerung der Infrastruktur eine Aufgabe der Einzelstaaten und dort primär der Privatwirtschaft ist. Mit dieser Haltung machen sie es dem Bund schwer, die Probleme anzupacken." Tatsächlich sinken die öffentlichen Ausgaben für Brücken, Straßen und Schienen seit Jahrzehnten. Nur 2,4 Prozent des US-Bruttoinlandsproduktes flossen zuletzt in die Infrastruktur – ohne, dass die Bürger protestierten. Doch angesichts der drohenden Naturkatastrophe ist die Wirtschafts- und Ausgabenpolitik des Landes keine abseitige ideologische Debatte mehr, sondern zu einer Frage der Existenz geworden.
"Ob in der Universität, an der Tankstelle oder bei Freunden: Es gibt derzeit nur ein Thema - den Hurrikan", sagt Skelley. "Und plötzlich fragen sich die Bürger, warum der Staat so wenig Schutz bietet." Auch in Virginia, einer der reicheren Bundesstaaten und dank seiner Lage – der Ostküstenstaat grenzt direkt an die Hauptstadt Washington, D.C. – im Blickpunkt der Öffentlichkeit, ist der Investitionsstau offenkundig. Vor dem Supermarkt "Trader Joe’s" hängen die Stromleitungen quer über die Straße, auch unweit des Pentagons, dem Sitz des US-Verteidigungsministeriums, in Arlington, schiebt der aufkommende Sturm die Stromleitungen und Verkehrsampeln hin und her wie Schachspieler ihre Holzfiguren. Beim letzten heftigeren Sturm in Virginia, im Juli, brauchten die Behörden fünf Tage, um die Stromversorgung wieder flächendeckend herzustellen. Stundenlang fielen Ampeln aus, es kam zu zahlreichen Unfällen.
Neue Stromtrassen wurden nie verwirklicht
Bei Jen und John Villar brannte bislang immer das Licht. Ihr zweistöckiges Reihenhäuschen in dem hippen „Old Town“ in Alexandria, rund 30 Minuten vom Weißen Haus entfernt, liegt in einem der wenigen Straßenzüge, in denen die Stromkabel unter der Erde liegen. "Unser Eigentümer hat das Grundstück aufbuddeln lassen und die Kosten getragen, nicht die Kommune", sagt John Villar. "Wir haben bewusst nach einem Häuschen gesucht, das nicht durch Überlandleitungen versorgt wird." Das hat seinen Preis. Für die knapp 100 Quadratmeter Wohnfläche zahlt das junge Ehepaar monatlich etwa 2200 US-Dollar (rund 1700 Euro) an Miete. Wer das nicht zahlen kann oder will, muss fürchten, ab Dienstagmorgen Ortszeit im Dunkeln zu sitzen.
US-Präsident Barack Obama versucht zu beruhigen. "Meine Mitarbeiter haben mir versichert, dass alle notwendigen Vorbereitungen für den Aufschlag des Hurrikans auf die Küste getroffen seien", so Obama nach einer Unterrichtung im Unwetter-Zentrum der Behörden in Washington. Die Behörden seien gut vorbereitet, schnelle Hilfe möglich. Der Präsident macht die Hurrikan-Notfallplanung zur Chefsache, wohlwissend, dass er bei der Erneuerung der Infrastruktur, die ja helfen könnte, Katastrophen abzumildern, wenig vorzuweisen hat. Die Deiche an den Küsten gelten vielerorts als nicht für den Ernstfall gewappnet, doch passiert ist nichts. Neue Stromtrassen wurden zwar geplant, aber nie verwirklicht.
Mangelnde Infrastruktur wird zum Standortnachteil für Unternehmen
"Die Regierung hat durch das Konjunkturprogramm von 2009 an einigen Stellen etwas für die Infrastruktur getan, zum Beispiel beim Straßenbau. Aber das war verglichen mit dem Zustand von Straßen, Bahnschienen & Co. oft nur ein Tropfen auf dem heißen Stein", sagt US-Experte Thunert.
Nicht nur die Bürger leider unter der maroden Infrastruktur, auch die Unternehmen sorgen sich um Nachteile im internationalen Vergleich. In der 2012er-Umfrage der Schweizer Wirtschaftsschule IMD („International Institute for Management Development“) zur Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaften bescheinigte nur gut jeder Dritte US-Arbeitgeber seinem Land eine „verlässliche Infrastruktur“. Insbesondere die Qualität des Schienen- und Straßennetzes, sowie die Anbindung von Gewerbegebieten an den Öffentlichen Nah- und Fernverkehr wird kritisiert.
Wie schlecht es um den Öffentlichen Personenverkehr bestellt ist, erfahren alle Besucher, die per Flugzeug nach Washington kommen, am eigenen Leib. Wer innerhalb der USA anreist, kann am "Ronald-Reagan-National-Airport" landen – einem Uralt-Bau aus den 1940er-Jahren. Ausländische Touristen oder Berufstätige fliegen den nur zehn Jahre jüngeren "Baltimore-Washington-International-Airport" an, der 65 Kilometer vom Stadtzentrum der Hauptstadt entfernt liegt oder "Dulles International". Von hier sind es nur rund 40 Kilometer bis zum Weißen Haus – doch der Flughafen ist weder ans U-Bahnnetz der Stadt angebunden, noch per Zug erreichbar. Gäste, die nicht von Freunden abgeholt werden, können für zehn Dollar alle 30 Minuten per Bus die rund 15 Minuten zur nächsten U-Bahn-Station überwinden.
"Man glaubt, man ist in einem Schwellenland"
"Wenn man in Washington oder auch in New York ankommt und in die Stadt fährt, glaubt man eher, man ist in einem Schwellenland. Das ist ein anderes Ankommen als in Shanghai, wo man in einen Magnetschwebezug steigen kann", sagt auch Thunert.
Im Wahlkampf spielte die marode Infrastruktur des Landes dennoch bislang kaum eine Rolle. Zwar betonen beide Präsidentschaftskandidaten, sie wollen die Wirtschaft ankurbeln und Infrastrukturfragen seien „entscheidend“ für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit. Doch Geld will weder Präsident Barack Obama noch Herausforderer Mitt Romney in die Hand nehmen. Im Gegenteil: Letzterer will zwar per "Fracking" die Ölforderung und damit die Steuereinnahmen ankurbeln, die Ausgaben des Staates aber auf 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts drosseln – und auch bei den Ausgaben für Infrastrukturprojekte sparen. So soll etwa die Bahngesellschaft „Amtrak“, die jährlich mit 1,6 Milliarden Dollar subventioniert werden muss, privatisiert werden. Von der Verlegung der oberirdischen Stromkabel unter die Erde oder der Erneuerung und Erhöhung der Deiche an den Küsten, ist im Wahlprogramm von Demokraten und Republikanern nichts zu lesen.
Die größten Pleitekandidaten der USA
Kaliforniens Haushaltsloch brachte schon Ex-Gouverneur Arnold Schwarzenegger zur Verzweiflung. Weder die Schließung von Gefängnissen noch die Sperrung von Nationalparks konnten die Finanzkrise des Landes lösen. In diesem Jahr wird im bevölkerungsreichsten US-Staat wohl eine Lücke im Haushalt von 25,4 Milliarden Dollar klaffen. Zur Einordnung: Das ist fast ein Drittel (29,3 Prozent) des Gesamtetats von 2011. Nun wird überall gespart – außer bei der Filmförderung für Hollywood.
Der fünftgrößte US-Staat war jahrelang die Heimat von US-Präsident Barack Obama. Er arbeitete in Chicago und ist noch heute in der „windy city“ äußert beliebt. Die Finanzlage des Landes ist besorgniserregend. Für 2012 erwartet Illinois ein Haushaltsloch von 15 Milliarden Dollar (44,9 Prozent des aktuellen Budgets). Die Bonität des Staates gilt schon jetzt als gering. Investoren leihen Illinois nur für hohe Zinsen ihr Geld. Die Schuldenspirale dreht sich damit immer weiter.
Der Bundesstaat an der Grenze zu Kanada hat nicht nur viele Gewässer ("Land der tausend Seen"), sondern auch viele Schulden. Für das Gesamtjahr 2012 gehen die Behörden von einem Haushaltsloch von knapp vier Milliarden US-Dollar aus. Schon im Juli 2011 war Minnesota zeitweise zahlungsunfähig. Zoos und Nationalparks wurden geschlossen, Bauarbeiten an Straßen wurden eingestellt und 22.000 staatliche Bedienstete in den unbezahlten Urlaub geschickt.
Der kleine Ostküstenstaat zwischen New York und Rhode Island steckt ebenfalls in der schwersten Finanzkrise seiner Geschichte. Im Haushalt 2012 fehlen 3,7 Milliarden Dollar (20,8 Prozent des 2011er-Etats). Selbst die private Elite-Uni Yale in Connecticut bleibt von der Krise nicht verschont. In ihrem Uni-Budget für 2011/12 fehlen 68 Millionen Dollar.
Der Südstaat musste in den vergangenen Jahren viele Tiefschläge verkrafte. Erst wütete Hurrikan „Katrina“ über das Land, dann folgte eine schmerzhafte Rezession und 2010 schließlich noch die Ölkatastrophe. Der Haushalt ist vollkommen überlastet. Es klafft 2012 ein Loch von 1,7 Milliarden US-Dollar (22 Prozent des 2011er-Etats).
Der Wüstenstaat ist durch eine Stadt weltbekannt: Las Vegas. Die Spielermetropole zieht jährlich Touristen aus allen Teilen der Erde an. Der Haushalt des Bundesstaates kann davon aber nicht profitieren. 2012 wird der Haushalt eine Lücke von 1,5 Milliarden Dollar aufweisen. Allerdings: Die Summe entspricht fast der Hälfte des derzeitigen Etats Nevadas.
Der nördliche Nachbar von Kalifornien wird 2012 wohl ein Haushaltsloch von 1,8 Milliarden US-Dollar verkraften müssen. Diese Summe beträgt ein Viertel des Gesamthaushaltes von 2011. Es wird drastisch gespart: Sowohl bei Kranken und Rentnern als auch bei Schülern und Studenten.
So sind die US-Bürger auf sich alleine gestellt, um "Sandy" zu überstehen – aber auch alle folgenden Hurrikans und Tornados. Meteorologen erwarten, dass "Sandy" am Montagabend Ortszeit irgendwo zwischen Washington und Boston auf Land trifft. Der Streifen gehört zu dem am dichtesten besiedelten in Amerika.
New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg forderte am Sonntag 375 000 Bewohner auf, wegen des drohenden Hurrikans ihre Häuser zu verlassen. Radio- und Fernsehsender warnten die Bevölkerung an der Ostküste vor einem drohenden "Frankenstorm" – in Anlehnung an das von der Filmfigur Frankenstein geschaffene Monster. Schon jetzt steht fest: Die USA haben dem Schreckgespenst nur wenig entgegenzusetzen.