Chicagos Sommer ist kurz, aber intensiv. In drei Monaten holen die Stadtbewohner all das nach, was im bis zu minus 40 Grad Celsius kalten und langen Winter ausfallen wird. Am Sonntag liefen sie zum Triathlon auf, am Abend zuvor gab es ein riesiges Feuerwerk. Mittwochs zeigen sie Filme wie „Dirty Dancing“ im Millenium Park und dieses Wochenende steigt dort ein großes Jazz-Festival.
Solche Events kosten die Stadt viel Geld, aber es zahlt sich aus: Etwas über 50 Millionen Touristen fanden 2014 den Weg in die Stadt mit ihren 2,7 Millionen Einwohnern. Ein Plus von 3,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr - und doppelt so viel Touristen, wie das etwas größere Berlin jährlich anzieht. Und so helfen die Reisenden der Stadt unbewusst und langsam heraus aus dem Sumpf, in dem sie steckt: Chicago steht am Rande des Bankrotts.
Die Hiobsbotschaft kam im Mai dieses Jahres. Da stufte die Ratingagentur Moody's die Anleihen der Stadt auf „Ba1“ herab, also Ramschniveau. Die Analysten hatten festgestellt, dass Sicherheiten für die Pensionsfonds der Stadt über Jahre zu hoch bewertet wurden – und der Kämmerer nun auf ungedeckten Verpflichtungen in Höhe von knapp über 20 Milliarden Dollar sitzt.
Bürgermeister Rahm Emanuel soll getobt haben. Der Vertraute und Ex-Stabschef von US-Präsident Barack Obama sieht zwei der vier fraglichen Fonds als abgesichert an. Er wähnt die Stadt in einem Aufschwung, der ihm mehr finanziellen Spielraum verschaffe. Ein Zahlungsausfall wie in der maroden Autostadt Detroit drohe nicht.
Opulent ist der Schuldenberg trotzdem: Nach offiziellen Zahlen beläuft er sich auf 63,2 Milliarden Dollar – oder 23.000 Dollar pro Kopf. Damit ist die Verschuldung pro Einwohner doppelt so hoch wie in Kaiserslautern, das in dieser Tabelle die rote Laterne für Deutschland trägt.
Hinzu kommt, dass es um Illinois noch schlimmer bestellt ist. Der Bundesstaat, dessen größte Stadt eben Chicago ist, steckt nicht nur tief in den roten Zahlen, sondern steht seit zwei Monaten ohne Haushalt da: Der Gouverneur, ein Republikaner, kann sich mit den in Senat und Parlament dominanten Demokraten nicht auf ein Sparpaket einigen. Chicago muss im schlimmsten Fall auf Milliarden verzichten, mit denen der Bundesstaat den Nahverkehr und das Schulwesen kofinanziert.
Der Verfall frisst sich durch Chicagos Süden
In Chicago selbst muss man genau hinter die Kulissen schauen, um die Folgen der klammen Lage zu betrachten. In „Downtown“, wo sich die Touristen tummeln, sind die Straßen in Schuss. Die Busse fahren, an jeder Ecke stehen Polizisten und geben den Gästen ein Gefühl der Sicherheit. Bürgermeister Emanuel soll die Direktive ausgegeben haben, das fiskalische Elend der Stadt vom Zentrum und seiner blitzblanken Hochhauskulisse fernzuhalten.
Wer sich indes mit der U-Bahn in die Vorstädte wagt, muss Zeit mitbringen: Die silbernen Waggons rattern über ein mehr als 100 Jahre altes Gleisbett, alle paar Hundert Meter stoppt sie ein Signal in der „Rush Hour“. Es empfiehlt sich, die Haltegriffe fest zu packen, denn schon leichte Kurven drohen die Fahrgäste in den stets voll besetzten Wagen umzureißen. Keine Frage: Die Chicago Transport Authority (CTA) hat schon lange nicht mehr in die Infrastruktur investiert; trotzdem verursacht der städtische Betrieb knapp fünf Milliarden Euro der Schulden über Anleihen und Pensionsverpflichtungen.
Überhaupt frisst sich der Verfall vor allem durch den Süden der Stadt. In Problemvierteln wie Englewood klaffen tiefe Schlaglöcher im Asphalt; offenbar verirren sich nur selten Straßenarbeiter in jene Gegenden, die vor allem durch Schießereien in die Schlagzeilen kommen. Hier exerzierte die Stadt auch zumeist die Streichkonzerte bei Schulen und Polizei, die einige tausende Stellen kosteten.
Seit 2013 mussten allein 50 Schulen dicht machten. Im arg isolierten Süden bekommt man auch wenig mit vom Brimborium im Stadtzentrum. Bis vor ein paar Jahren gab es im Süden am Lake Michigan ein großes Feuerwerk, heute nicht mehr – aus Kostengründen eingestellt.
Chicago ist eine zweigeteilte Stadt: Im Süden und in Teilen des Westens herrschen Verfall, Armut, Kriminalität; die Folge der Massen-Abwanderung von Industriebetrieben und einer gescheiterten Stadtentwicklung. Im Zentrum und im Norden hingegen boomt Chicago, hier wächst die Stadt um die Hauptquartiere von Boeing, Wrigley, Exelon, Siemens, Bosch oder United-Continental. Wer es irgendwie schafft, zieht aus dem Süden weg in die besseren Viertel des Nordens – denn dort ist zugleich die Schulausbildung besser, die Jobaussichten sind günstiger.
„Downtown“ wird noch viele Unternehmen und noch mehr Touristen anziehen, damit sich das wahre Problem der Stadt lösen lässt: Die Ghettoisierung im unterfinanzierten Süden, dessen wieder wachsende Kriminalität das Image der Stadt als Boom-Town zerstört.