Inside Chicago

Warum Amerika so kriminell ist

Berlin ist größer als Chicago – und zählt trotzdem fünfmal weniger Morde im Jahr. Soziale Schieflagen, Gang-Gewalt und leicht verfügbare Waffen halten die Kriminalität hoch. Auf Nachtschicht mit einem Polizeireporter.

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Viertel wie Altgeld Garden oder Englewood sind die Reviere von Gangs. Quelle: REUTERS

Bevor Jeremy in Chicago's hochkriminelle Südviertel abbiegt, stoppt er den Wagen noch einmal bei Starbucks. „Das mache ich jedes Mal so“, sagt mein Kollege von der "Chicago Tribune". „Dort unten in der Southside steigen wir lieber nicht aus dem Auto aus.“ Zumal die Nacht beginnt in Vierteln wie Altgeld Garden oder Englewood – die Reviere von Gangs, deren geschätzt 100.000 Mitglieder sich fast jede Nacht gegenseitig beschießen. In warmen Sommernächten wie dieser kommen manchmal zwei Dutzend Chicagoer an einem Wochenende um.

Jeremy ist Polizeireporter beim „Trib“, wo ich zwei Monate als Gast-Redakteur arbeite. Die Zeitung berichtet leidenschaftlich über alle Facetten der hohen Kriminalität, mit der in Chicago manch einer geradewegs kokettiert. Von mir erwartet man, dass ich aus meiner deutschen Sicht übers Morden in der Stadt schreibe. Völliges Neuland. Aber niemand ist besser geeignet, mir die üblen Viertel zu zeigen als Jeremy, 33, der die Gang-Szene wie kein Zweiter kennt.

Noch vor zehn Jahren hätte man die Gegend rund um Starbucks kaum betreten können, aber das Café gab es damals ohnehin noch nicht. „Als sie hier in der 51. Straße die neue Polizei-Zentrale gebaut haben, schossen die Gangs von den Dächern gegenüber auf die Baustelle“, erzählt Jeremy. Bis die Stadt die Häuser abgerissen haben, und zwar in ganzen Straßenzügen. Es handelte sich um Sozialwohnungen, die in Chicago nach dem zweiten Weltkrieg für Veteranen gebaut worden waren. Doch die meisten „Housing Projects“ waren nach ein paar Jahren regelrechte Armuts-Ghettos, in denen die Gangs der Afro-Amerikaner bald das Sagen hatte.

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Platz 6: Distrito Central, HondurasNoch krimineller geht es im Distrito Central in Honduras zu. Hier liegt die Mordrate bei über 73. Die Gemeinde mit knapp 1.200.000 Einwohnern vermeldete 2015 genau 882 Morde. Quelle: dpa
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Seit den Neunzigerjahren lässt die Verwaltung die Wohnsilos abreißen, um dort Parks anzulegen. Neue günstige Wohnungen entstehen über die gesamte Stadt verteilt, nicht mehr konzentriert auf einzelne Brennpunkte. „Die Viertel sind immer noch kriminell, aber es ist schon deutlich besser geworden“, urteilt Jeremy. Mit Blick auf zehn oder zwanzig Jahre sei die Kriminalität ohnehin gesunken – um ungefähr die Hälfte. Warum die Zahl der Morde dieses Jahr um etwa 20 Prozent über der des Vorjahres liegt, kann er sich allerdings nicht erklären.

Im Vergleich mit Berlin sind die Unterschiede fatal: Im Jahr 2014 zählte Chicago bei 2,7 Millionen Einwohnern 461 Morde. Die deutsche Hauptstadt, ohne die Vorstädte knapp eine Million größer als Chicago-City, kam auf 131 Fälle von Mord und Totschlag (wobei die Statistiker hierzu auch Fälle von versuchtem Mord rechnen). Sechs Menschen kamen in Berlin bei Raubüberfällen durch Schusswaffen ums Leben – so viele sterben in Chicago an jedem Wochenende im Sommer.

Für die eklatanten Unterschiede sehe ich drei Hauptgründe:

Erstens: In Chicago sind trotz scharfer Waffengesetze in Illinois viel zu viele Schusswaffen im Umlauf; schon im 30 Kilometer entfernten Bundesstaat Indiana kann sich der Chicagoer ein Schießeisen einfach und legal besorgen.

Zweitens hat die Stadt ein Gang-Problem, das die Polizei nur schwer in den Griff bekommt.

Drittens haben die Bewohnern dieser stark nach Hautfarbe getrennten Gegenden meist keine Chance zum sozialen Aufstieg.

Verschiedene Gang-Viertel

Wir fahren mitten hinein in die Gang-Viertel. „Diesen Block kontrolliert eine Gang namens 'Kill Awards'“, erzählt Jeremy. „Das nächste Viertel gehört einer anderen Gang, sie nennen es G-Ville. Wenn Nachts ein Kind aus G-Ville über diese Straße hinüber zu den 'Kill Awards' läuft, wird es erschossen.“ Ein paar Meter weiter steht eine katholische Kirche. Der Pfarrer gehe seit Jahrzehnten in Familien beider Gangs ein und aus, um zu vermitteln. „An jedem Freitagnachmittag kommen sie hier zusammen, um gemeinsam für den Frieden zu beten.“ Anschließend bricht die Nacht herein und die Gang-Kriege beginnen aufs Neue.

Auf den ersten Blick ist von der Gewalt nichts zu erkennen. Wie im friedlichen Norden der Stadt wirken die Einfamilienhäuser sauber und gepflegt; auch arme Afroamerikaner haben für ein paar zehntausend Dollar auf Pump solche Fertigbuden kaufen können. Zumal es nirgendwo so billig ist wie in Englewood, dem brutalsten Polizeibezirk der Stadt. Allerdings fällt bei genauerem Hinsehen auf, dass viele Häuser leer stehen. „Seit den Achtzigerjahren hat Englewood fast die Hälfte der Bevölkerung verloren“, sagt Jeremy. Wer Kinder hat und es sich wirtschaftlich leisten kann, zieht weg aus diesem Sumpf der Kriminalität.

Kriminalität


Natürlich ist die Polizei nicht untätig, im Gegenteil. Rund 600, 700 Schutzmänner, schätzt Jeremy, patrouillieren allein in einem Problemviertel wie Englewood. Nach Feierabend fahren die Polizisten in sogenannten B-Patrols Streife: Auf Stundenbasis verdienen sich Polizisten etwas Geld dazu, die eigentliche Polizeiarbeit übernimmt der Schichtdienst. Tatsächlich vergeht kaum eine Minute, ohne dass ein Chrysler des Chicago Police Department den Weg kreuzt – trotzdem rufen viele dunkle Gestalten uns etwas hinterher, als wir bei heruntergekurbeltem Scheiben als Weiße furchtlos durch die harten Viertel fahren.

Vermutlich ist es ein Erfolg der Polizeiarbeit, dass die Kriminalität im Vergleich zu den neunziger Jahren zurückgegangen ist. Früher, erzählt Jeremy, seien sie mit hundert Bereitschaftspolizisten nach Englewood gefahren und hätten in ganzen Straßenzügen sämtliche Papiere kontrolliert. „Die Polizisten wollten Präsenz zeigen und wurde binnen kürzester Zeit zu Hassfiguren.“ Inzwischen gebe es spezialisierte Abteilungen, die die Gang-Strukturen analysieren, die Gewalttäter observieren und versuchen, Kriminalität präventiv zu verhindern.


Ein Kernproblem wird allerdings auch die Polizei nicht lösen können: Den meist Afro-Amerikanern in der „Southside“ fehlen die wirtschaftlichen Chancen. Praktisch alle Fabriken in der Gegend sind über die Jahre verschwunden, im reichen Norden mit der guten Anbindung an neue Gewerbegebiete kann sich keiner die Mieten leisten – und noch schlimmer: Chicago gilt als überaus segregierte, teils gar rassistische Stadt. Im Norden würden viele keine Farbigen aus dem Süden einstellen, denn er stünde automatisch unter Gang-Verdacht.

Solange aber die Kriminalität im Süden hoch bleibt und die Gangs ganze Viertel mit Schutzgeldern und Drogenhandel dominieren, werden dort auch keine neuen Jobs entstehen. Die Kriminalität mag sinken, aber sie wird Chicago wohl immer erhalten bleiben.

Diese Nacht bleibt übrigens relativ ruhig. Im Westen hat sich ein Kind in den Bauch geschossen. Offenbar ein Versehen. Eine Ecke weiter stirbt ein Mann an einem Kopfschuss. Vermutlich Selbstmord. Später wird in Englewood einer erschossen. Aber nur einer. Jeremy entscheidet sich dagegen, einen der Tatorte anzufahren: „Ganz schön ruhig, heute Nacht“, sagt er.

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