Krieg in der Ukraine Warum Indien trotz allem zu Russland hält

Vor allem zwei Dinge binden Indien an Russland: Der Partner ist Indiens größter Waffenlieferant, stellt noch immer fast die Hälfte der indischen Ausrüstung. Außerdem gibt es zwischen den beiden Ländern eine große Energiepartnerschaft. Daher treffen sich Indiens Premierminister Narendra Modi (rechts) und Russlands Präsident Wladimir Putin regelmäßig, hier Ende 2021 in Neu-Delhi. Quelle: AP

Der indische Premierminister Modi hütet sich, den Krieg gegen die Ukraine zu verurteilen. Er fürchtet, Waffen- und Energielieferungen zu verlieren – und Russlands Unterstützung bei Indiens eigenen Konflikten.

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Der Diplomat T. S. Tirumurti hat gerade keinen einfachen Job. Er ist Indiens ständiger Vertreter bei den Vereinten Nationen (UN), als er nun bei der Vollversammlung auftrat, musste er alle Register seines Berufs ziehen. Tirumurti sprach von der Bedeutung der UN-Charta, von „der Achtung der Souveränität und territorialen Unversehrtheit von Staaten“, die alle Mitglieder anerkennen müssten – nur eines machte er nicht: Russland dabei zu erwähnen. Als der UN-Sicherheitsrat später über eine Resolution gegen Russlands Krieg in der Ukraine abstimmte, enthielt er sich. Klare Kante zeigen? Bloß nicht. 

Indien setzt seit Jahren auf eine schwierige Strategie: Es will seine guten Beziehungen zu Russland pflegen – sich aber gleichzeitig enger mit dem Westen verbinden. Das Beste aus beiden Welten, das ist das Ziel. Doch diese Strategie ist jetzt womöglich am Ende: „Indien kann in dem aktuellen Konflikt nur verlieren“, sagt Christian Wagner, Experte für indische Außenpolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

Russlands Wirtschaftssystem war Vorbild

Mit Russland, und zuvor mit der Sowjetunion, verbindet Indien eine besondere Partnerschaft. Nachdem das Land 1947 unabhängig von Großbritannien wurde, richtete sich die indische Entwicklungsstrategie staatswirtschaftlich aus – und nahm sich Anleihen am Wirtschaftssystem der Sowjetunion.  

Seit einem Besuch des damaligen Parteichefs der Kommunistischen Partei, Nikita Chruschtschow, im Jahr 1955 unterstützte die Sowjetunion Indien im Kaschmirkonflikt; später, 1971, politisch auch im Krieg gegen Pakistan. „Russland gilt in Indien als zuverlässigster Verbündeter im internationalen System“, sagt Wagner.

Keine Kritik – auch nicht nach der Krim-Annexion

Indien habe sich revanchiert, indem es Russland kaum kritisierte: nicht 1956, als sowjetische Truppen den Aufstand in Ungarn niederschlagen, nicht 1979 bei deren Einmarsch in Afghanistan – und nicht 2014, als Russlands Präsident Wladimir Putin die ukrainische Halbinsel Krim annektiert.

Aber was bindet Indien heute konkret an Russland? Zunächst die Rüstungsfrage: Russland ist Indiens größter Waffenlieferant, stellt noch immer fast die Hälfte der indischen Ausrüstung. Früher kamen sogar 70 Prozent der indischen Rüstungsgüter von dem Partner. Das bleibt von Bedeutung, gerade im Hinblick auf Grenzkonflikte Indiens.

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Kalaschnikows für Russland 

So lässt Indien gerade das russische Raketenabwehrsystem S-400 an der pakistanischen Grenze installieren – um sich vor Angriffen aus Pakistan und China zu schützen, lautet Indiens Begründung. Als Gegenleistung stellt das Land Kalaschnikows für Russland her.

Auf der anderen Seite könne Indien es sich nicht leisten, die USA zu verprellen, erklärt Indienexperte Wagner. Die Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten sei für die Modernisierung der indischen Streitkräfte zentral. „Zum anderen gibt es zwischen Russland und Indien aber auch eine große Energiepartnerschaft“, sagt er. Eine Abhängigkeit, die Deutschland nicht unbekannt ist. Steigende Energiepreise schwächten schon jetzt den Wiederaufschwung Indiens, nachdem die Wirtschaft aufgrund der Coronapandemie stark eingebrochen war.

Dazu kommen geopolitische Entwicklungen, auf die Indien selbst kaum Einfluss nehmen kann. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine und die unmittelbar von der Europäischen Union und den USA verhängten Sanktionen, zeigten eines deutlich, analysiert Shibani Mehta, Sicherheitsexpertin der Denkfabrik Carnegie India: Russland breche auf absehbare Zeit mit dem Westen. Sie erwartet, dass in Folge Russland und China einen Machtblock bilden. Indien, warnt sie, müsse dies heute bereits in seine außenpolitische Strategie einbeziehen.

Denn sollten Russland und China sich künftig auch in Indiens Hinterhof abstimmen, wie sie es nennt, also bei Fragen, die das Land unmittelbar betreffen, könnte Peking möglicherweise darauf hinwirken, dass Russland mit bisher gültigen ungeschriebene Vereinbarungen bricht. So könnte das Land Indiens Bitten, Pakistan nicht zu bewaffnen, künftig ignorieren oder kein Veto mehr einlegen, wenn die Kaschmirfrage bei den Vereinten Nationen wieder aufkommt, fürchtet Mehta.

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Aus für U-Boote?  

Für die Wissenschaftlerin muss Indien daher abwägen: Welche Kosten kämen auf das Land zu, sollte es Russland doch noch offen für den Einmarsch in die Ukraine kritisieren? Russland könnte dann beispielsweise aufhören, Nuklear-U-Boote an Indien zu liefern oder generell seinen Technologietransfer unterbinden. 

Sollte Indien in neue Konflikte verwickelt werden, könnte das Land außerdem wohl nicht mehr auf schnelle Waffen- und Munitionslieferungen Russlands zählen. Für Mehta ist die Sache klar: Sich weiter herauszuhalten birgt trotzdem höhere Risiken: „Indien muss sich fragen, ob seine Antwort deutlich macht, dass Indiens Zukunft nicht der Welt entsprechen kann, die China sich mit Russland an seiner Seite ausmalt.“

Diplomatischer Dienst in der Größe Singapurs 

Auch SWP-Experte Christian Wagner sieht die Gefahr, dass Regierungen in westlichen Hauptstädten darüber nachdenken, was es für die Zusammenarbeit mit Indien heißt, wenn die Regierung des Landes weiter bei ihrer neutralen Position bleibt. Allerdings hält er Indiens Möglichkeiten ohnehin für eingeschränkt: „Man ist der Situation ausgesetzt“, sagt er,  „Indien hat außenpolitisch keine Ressourcen, selbst etwas steuern zu können". 

Das liege zum einen daran, dass das Land kaum in Außenpolitik investiere: „Indien unterhält einen diplomatischen Dienst von der Größe Singapurs“. Zum anderen sei es wirtschaftlich schwach, in Folge der Coronapandemie, aber auch aufgrund seiner eigenen Wirtschaftspolitik – gerade weil die Regierung zunehmend auf Protektionismus setzt. „Indien tut sich im internationalen Standortwettbewerb weiterhin schwer“ sagt Wagner.

Der Job des indischen Diplomaten T. S. Tirumurti wird erst einmal wohl nicht einfacher werden.

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