Percy ist für viele New Yorker in diesen Tagen der Held im East Village. In der 13. Straße, Ecke Avenue A, hat der Besitzer der Kneipe Percy’s Tavern zwei Benzin-Generatoren hingestellt und Mehrfachsteckdosen angeschlossen. Eine Traube von zwanzig Menschen schart sich jeweils um einen Generator, um Handy, Laptop oder ipad aufzuladen. Über zwei Stunden dauert es, bis ein Gerät vollständig aufgeladen ist. Geduldig warten die New Yorker. Oskar freut sich: „Jetzt kann ich wenigstens Musik hören oder Filme gucken. Langsam wird es langweilig so ohne Fernsehen und Internet und Telefon“, sagt der 35-jährige, der nur ein paar Häuser weiter von der Kneipe wohnt.
Auch ich lade mein Handy auf. Seit Montag ist der Strom weg in Süd-Manhattan, in das ich geflohen bin aus Brooklyn, wo die Überflutungsgefahr zu groß war. Also ab ins East Village, wo mich eine Freundin aufgenommen hat. Wir wussten, dass es da auch nicht so viel sicherer ist. Aber besser zusammen Sandy überstehen als allein zu Hause hocken. Also haben wir die Fenster mit Tape abgedichtet, alle Pflanzen vom Balkon reingetragen, Wasser in die Badewanne gefüllt, zusätzlich Eimer mit Wasser bereitgestellt.
Montagabend dann war es soweit. ConEdison, die Elektrizitätsfirma rief sogar an, um uns anzukündigen, dass sie bald den Strom abstellen werde. Und klack, macht es gegen frühen Abend, Fernseher aus, Licht aus, Handy aus – von jetzt auf gleich war es stockdunkel im East Village und in ganz Süd-Manhattan.
Das East Village gehört wie das Finanzzentrum an der Südspitze der Insel zu den Teilen von New York City, die vom Wirbelsturm Sandy am stärksten betroffen sind. Hundertausende sind seit drei Tagen ohne Strom, die Keller stehen mit Wasser voll. Umgeknickte Bäume liegen auf der Straße, Autos sind von den Fluten am East River weggespült worden. Es gibt kein Licht, kein warmes Wasser, kein Fernsehen, kein Internet, keine Klospülung. Restaurants sind geschlossen, Starbucks, MacDonald’s, Burger King, all die Läden, ohne die die New Yorker eigentlich nicht leben können, sind dicht. Nicht mal Hot dogs gibt’s am Straßenrand zu kaufen. Und sogar China-Town ist dicht.
Die Stadt lernt es nicht
Es ist schon verrückt in dieser Stadt. Im vergangenen Jahr gab es Wirbelsturm Irene. Auch da drohte eine Flut über New York City hereinzubrechen – vor allem an der Südspitze – dort wo sich East River und Hudson River treffen und wo sich die Wall Street befindet. Gegen mögliche Terroristenanschläge ist das ganze Gelände rund um die New York Stock Exchange total abgesichert. Gegen Hochwasser, Wirbelstürme oder Hurrikans gibt’s keinen Schutz – Deiche, Schutzwälle oder simple Sandsäcke? Fehlanzeige. Irgendwie scheinen die New Yorker vergessen zu haben, dass ihre Insel am Ozean liegt.
Keine Kerzen, kein Wasser
Am Tag nach dem Sturm sind im East Village tatsächlich ein paar Läden geöffnet. In Ali’s Deli auf der Avenue B leuchten die Kunden mit ihren Taschenlampen die Regale ab, Chips sind gefragt und Kekse. Ich zahle für drei kleine Tüten Chips und ein paar Butterkekse zehn Dollar. Haltbare Milch hat Ali nicht. Wein und Bier natürlich auch nicht. Nicht mal Wasser. Dafür Batterien und Streichhölzer, Kerzen sind alle.
Letztes Jahr Weihnachten habe ich von unserer Redaktion ein iPod Mini geschenkt bekommen. Das Radio in dem kleinen Gerät ist jetzt Gold wert – so weiß ich wenigstens, was los ist. New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg verkündet, das Wasser aus der Leitung sei nach wie vor trinkbar. Zu Sicherheit hätte die Stadt das Wasser mit ein bisschen mehr Chlor versetzt. Lecker. Bei uns in der Wohnung tröpfelt das Wasser nur aus dem Hahn. Auf dem Dach gibt es einen großen Wassertank, der langsam immer leerer wird, neues Wasser kommt nicht nach. Die Klospülung funktioniert nicht. Aber wir haben ja unser Wasser aus der Badewanne.
Pflichtbewusstsein im Chaos
Am nächsten Tag laufen wir zu ConEdison am East River – ein Elektrizitätswerk direkt am Wasser, na das ist ja schlau. Hier sieht es total verwüstet aus. Die Polizei hat das ganze Gelände abgesperrt. Wir erfahren: nicht die Flut hätte den Stromausfall verursacht, sondern durchgebrannte Sicherungen, die in Kontakt mit Salzwasser gekommen seien. Jetzt müssten alle Verteiler in lower Manhattan überprüft und gereinigt werden – und das kann dauern, von vier oder fünf weiteren Tagen ist die Rede.
Vom Balkon aus sehen wir am Abend Licht am Union Square. Ist da womöglich Strom? Voller Erwartung laufen wir am Morgen los. Doch die Enttäuschung ist groß: Licht hat nur das ConEdison-Verwaltungsgebäude am Irving Place. Trotzdem gehe ich zu dem Gebäude ein paar Häuser weiter, wo die WirtschaftsWoche ihr Büro hat. Da sitzt doch tatsächlich der Doorman. „Nein“, sagt er, „hier gibt’s auch keinen Strom.“ Kein Mensch sei in dem ganzen Hochhaus. Warum er denn da sitze? Er müsse eben hier sitzen, sagt er etwas erstaunt über meine dumme Frage.
Spenden und Verkehrschaos
Spur der Verwüstung
Der Union Square direkt um die Ecke ist vollgepackt mit ConEdison-Autos. Überall laufen die Techniker rum. Am West-Union-Square gibt es wundersamer Weise Mobilfunkempfang. Wie die Bienen hängen die New Yorker am Straßenrand und telefonieren und tippen in ihre Handys. Ich kann mich nach fast drei Tagen endlich im Büro in Düsseldorf zurück melden und kurz zu Hause in Deutschland anrufen. Auch meinen Vermieter in Brooklyn erreiche ich. Ja, es sei alles okay, sagt er. Strom und Wasser funktionierten. Doch wie nach Hause kommen? Die U-Bahnen fahren nicht. Taxen sind kaum zu kriegen.
Spenden für Betroffene
Als es langsam stockfinster wird im East Village kommt ein Sicherheitsmann der Stadt und mahnt, „wenn ihr hier kein Nachtlicht aufstellt, müsst ihr den Generator ausmachen, das ist zu gefährlich.“ Immer noch stehen die Menschentrauben um Percys Generator und laden ihre Handys auf. Percy steigt in seinen Geländewagen und schaltet das Standlicht an. Es gibt tosenden Applaus für ihn.
Rupert Murdoch kündigt derweil an, für die von Sandy betroffenen Familien in New York und New Jersey eine Million Dollar spenden zu wollen. Andere Firmen machen das hoffentlich auch, schrieb der Medienmogul auf Twitter. Zum Medienimperium des 81-jährigen gehört unter anderem der US-Fernsehsender Fox.
US-Wahl wackelt
Der US-Wahlkampf ruht – halbwegs. Präsident Obama tourt am Donnerstag zusammen mit dem Gouverneur von New Jersey, Chris Christie, durch die vom Wirbelsturm stark betroffenen Gebiete. Der Republikaner Christie war fast den Tränen nahe, als er von seinem Helikopter-Flug über den US-Bundesstaat an der Ostküste berichtete. Nichts sei da mehr wie vorher. Es sei eine Katastrophe. Inzwischen habe ich es nach Hause nach Brooklyn geschafft. Ein Taxifahrer fand sich, der mich für 40 Dollar - ungefähr das Doppelte des sonst üblichen Fahrpreises - gefahren hat. Meine Freundin ist zu einem Freund nach Harlem gezogen. Da gibt’s Strom und warmes Wasser. Die Geschäfte haben geöffnet.
Ab Donnerstag sollen wieder ein paar U-Bahnen fahren, aber nur in Teilabschnitten der Stadt. Von Manhattan nach Brooklyn und zurück fährt nichts. Die Tunnel sind vollgelaufen. Bürgermeister Bloomberg kündigt an, dass nur Autos mit mindestens drei Personen nach Manhattan reinfahren dürfen. Er will ein Verkehrschaos verhindern, denn natürlich funktionieren auch die Ampeln nicht. Verkehrspolizisten sind kaum welche zu sehen. Die Marine schickt Schiffe zur Katastrophenhilfe nach New York und New Jersey. Das Bellevue-Krankenhaus am East River ist bereits evakuiert worden.
Schon unken die New Yorker, dass die Präsidentschaftswahlen am kommenden Dienstag womöglich gar nicht stattfinden werden – wahrscheinlich gibt es bis nächste Woche in vielen Gebieten, in denen der Wirbelsturm Schaden anrichtete, immer noch keinen Strom. Zudem erreichten viele Sturmgeschädigte an der Ostküste gar kein Wahlbüro. Was aber auf jeden Fall stattfinden soll am kommenden Sonntag sei der New York Marathon. Ein solches Großereignis lassen sich die New Yorker so schnell nicht nehmen – auch nicht von einem verheerenden Wirbelsturm mit dem hübschen Namen Sandy.