
Auch ein Jahr nach der Umstellung auf eine neue Berechnungsmethode für das Wirtschaftswachstum in Indien halten Ökonomen die Zahlen weiter für fraglich. „Momentan glaubt den Daten leider niemand“, sagte der in Oxford promovierte Wirtschaftswissenschaftler Rajiv Kumar der Deutschen Presse-Agentur. Bis vor wenigen Jahren war Kumar erst Chefökonom von CII und später Generalsekretär von FICCI, den größten Wirtschaftsverbänden Indiens.
Statt wie offiziell erklärt bei 7,4 Prozent dürfte das Wachstum der drittgrößten Volkswirtschaft Asiens in diesem Finanzjahr eher bei etwa 5 Prozent liegen, schätzte Kumar. Damit wäre Indien zwar nicht mehr die am schnellsten wachsende große Volkswirtschaft der Welt – stehe unter den Schwellenländern aber sehr wohl noch glänzend da, sagte Kumar. Denn die Inflation sei unter Kontrolle, das Leistungsbilanzdefizit gesenkt und die Rupie – im Gegensatz etwa zum russischen Rubel oder südafrikanischen Rand – nicht im freien Fall.
Ganz so rosig wie das indische Statistikamt das Bild male, sei es allerdings auch nicht, sagte Kumar. Der Export gehe seit 13 Monaten zurück, die Banken vergäben nicht viele Kredite, und der Binnenkonsum schleppe sich dahin. Auch die Arbeitslosigkeit sinke nicht – was sie aber bei einem solch rasanten Wachstum tun sollte. „All das ist nicht im Einklang mit den Wirtschaftszahlen, die herausgegeben werden“, sagte Kumar, der auch das Finanz- und das Industrieministerium in Neu Delhi beriet und heute für die Denkfabrik Centre for Policy Research arbeitet.
Das BIP wird neu berechnet
Ab September wird das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in der EU nach einer neuen Regel kalkuliert. Das Statistische Bundesamt hat das deutsche Wirtschaftswachstum bereits im zweiten Quartal 2014 nach der neuen Vorschrift berechnet – und gleichzeitig auch die Daten zurück bis 1991 angepasst.
Im Durchschnitt fällt das nominale BIP nun rund drei Prozent höher aus als bisher.
Die quantitativ wichtigste Änderung betrifft die Aufwendungen für Forschung und Entwicklung. Bisher wurden die Ausgaben hierfür als Vorleistungen behandelt, künftig gehen sie als Investitionen in die BIP-Berechnung ein. Letzteres gilt auch für die Anschaffung militärischer Waffensysteme. Selbst illegale Aktivitäten wie der Verkauf von Drogen steigern ab jetzt als Schätzwert das Bruttoinlandsprodukt.
Obwohl dem Anstieg des BIPs ein rein statistischer Effekt zugrunde liegt, hat die Umstellung auch politische Auswirkung. So dient das Bruttoinlandsprodukt als Referenzgröße für die Verschuldungskriterien der Euro-Länder (höchstens drei Prozent Defizit, 60 Prozent Schuldenstand). Das höhere BIP lässt also mehr Spielraum für Neu- und Gesamtverschuldung, frühere Kredite wirken harmloser. Die neue Schuldenstandsberechnung steht noch aus. Nach einer Prognose der Deutschen Bank sinkt der Wert für Deutschland für 2013 von 78,4 Prozent auf rund 76 Prozent.
Indiens Statistikamt hatte vor einem Jahr die Berechnungsgrundlage geändert. Seitdem gilt nicht mehr das Haushaltsjahr 2004/2005 (April bis März) als Bezugsjahr, sondern 2011/2012. Zudem werden die Marktpreise der Güter und Dienstleistungen anstatt der Produktionskosten der Firmen zur Ermittlung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) herangezogen. Dadurch lag Indiens Wachstum plötzlich etwa zwei Prozentpunkte höher – und über dem von China. Das Reich der Mitte hatte seinerseits im September 2015 die Berechnungsregeln verändert und auf internationale Standards umgestellt.
Selbst der oberste Wirtschaftsberater der indischen Regierung, Arvind Subramanian, gab zu, dass die Zahlen ihn verwirrten. Notenbankchef Raghuram Rajan, einst Chefökonom des Internationalen Währungsfonds (IWF), war von Anfang an skeptisch. Ende Januar sagte er in Mumbai: „Es gibt Probleme mit der Art und Weise, wie wir unser BIP-Wachstum berechnen.“ Manchmal entstehe Wachstum nur dadurch, dass Menschen in einen anderen Bereich wechselten.
Bei der Ermittlung des Wachstums in der Produktion würden nun nicht wie bisher die Daten von 5000, sondern von 500.000 Unternehmen herangezogen, sagte Kumar. Darunter seien besonders viele Klein- und Kleinstunternehmen, die nach Angaben der Regierung ein Wachstum von 12 Prozent haben, während die größeren fast stagnieren. „Dass zwei Bereiche der Industrie ziemlich unabhängig voneinander arbeiten, ohne verbunden zu sein, ist sehr schwer zu glauben“, sagte Kumar.
Die Statistikbehörde solle die Daten für diese 500.000 Unternehmen auf den Tisch legen, forderte Kumar. Das helfe allen, etwa auch der Weltbank und dem IWF. Diese sehen Indien derzeit ebenfalls bei rund 7,5 Prozent Wachstum. Kein Wunder, sagte Kumar. Die beiden Institutionen verwendeten ebenfalls vor allem die Daten der Regierungen. „Die machen überhaupt keine unabhängige Schätzung“, kritisierte er.