Vor dem Kollaps steht die Wirtschaft hingegen nicht, sagt Natalja Orlowa. Die Chefvolkswirtin der privaten Alfa-Bank rechnet nicht mit einem Einbruch des Bruttoinlandsprodukts. Dazu trage vor allem die neue Politik der Zentralbank bei, sich aus dem Währungsmarkt herauszuhalten.
Ein sinkender Rubel hilft die Zahlungsbilanz stabil zu halten – trotz sinkender Kaufkraft und Rezession. Der Kursverfall nimmt dem russischen Fiskus zudem die lästige Aufgabe ab, seinen Haushalt in Ordnung zu bringen. Denn in Rubel gerechnet, bleibt der Ölpreis in etwa gleich. So wirkt die Abwertung wie ein automatisches Sparprogramm der Regierung. Da auch die Budgeteinnahmen, in Rubel gerechnet, stabil bleiben, müssen Ausgaben nicht gekürzt werden, anders als in Griechenland.
Bevölkerung und Unternehmen legen indes Devisen beiseite. Berechnungen der Higher School of Economics in Moskau zeigen, dass Unternehmen allein im Oktober ihre Dollar-Reserven um fast zehn Milliarden Dollar erhöht haben. Privatpersonen bunkerten zusätzliche fünf Milliarden.
Gleichzeitig stecken viele ihr Geld in den Konsum. Trotz stagnierender Reallöhne legten die Einzelhandelsumsätze zwischen Mai und Oktober um 1,5 Prozent zu. Erst vor zwei Wochen kam es bei einer Media-Markt-Eröffnung in Moskau zu tumultartigen Szenen. Der Elektronikhändler hatte 400 neue iPhones zum alten Preis im Angebot, obwohl Apple in seinem Online-Geschäft die Preise wenige Tage zuvor um ein Viertel angehoben hatte. Inzwischen hat der Technologiekonzern seinen Internethandel gestoppt; zu groß seien die Währungsschwankungen, zu unsicher die Preisangaben des Unternehmens, hieß es aus den USA.
Auch wenn iPhones nach wie vor ein Renner sind: Die steigende Nachfrage wird wohl ein Strohfeuer bleiben. Spätestens, wenn der schwache Rubel in den nächsten Wochen mehr und mehr auf die Verbraucherpreise durchschlägt. Einen ähnlichen Effekt befürchten Experten auch für Russlands verarbeitende Industrie, die laut Higher School of Economics zwischen Mai und Oktober ein überraschendes Plus von 2,3 Prozent hinlegte.
Jaroslaw Lissowolik, Chefvolkswirt der Deutschen Bank in Moskau, warnt: „Die Unterstützung des schwachen Rubel für die heimischen Hersteller wird von Krise zu Krise geringer.“ Das Wachstum konzentriere sich auf Bereiche mit freien Kapazitäten und werde sich erschöpfen, sobald diese belegt seien.
Was ist „Neurussland“?
In der Ostukraine haben prorussische Separatisten im Mai ihre „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk zu „Neurussland“ vereinigt. Auch Russlands Präsident Putin verwendete mehrfach diese Bezeichnung. Sie hat einen historischen Ursprung.
Mitte des 18. Jahrhunderts wurde ein Militärbezirk nördlich des Schwarzen Meeres so genannt. Neurussland reichte damals von Bessarabien (heute die Republik Moldau) bis zum Asowschen Meer. Zentrum war Krementschuk, etwa 300 Kilometer südöstlich von Kiew. Zur Zeit der Feldzüge gegen die Türken und das Krim-Khanat sollte die Ansiedlung russischer und ukrainischer Bauern sowie ausländischer Siedler das Grenzgebiet stabilisieren.
1764 bildete Zarin Katharina die Große das „Neurussische Gouvernement“. Nach der Eroberung der Krim verlor Neurussland seine strategische Bedeutung und wurde rund 20 Jahre nach der Gründung wieder aufgelöst. Zar Paul I. bildete 1796 erneut ein kurzlebiges Verwaltungsgebiet Neurussland um den Hauptort Noworossisk, dem heutigen Dnjepropetrowsk.
Anfang des 19. Jahrhunderts wurde ein russisches „Generalgouvernement Neurussland-Bessarabien“ geschaffen. Von 1818 bis etwa 1880 wurden wieder ausländische Siedler angeworben. Auch aus deutschsprachigen Gebieten kamen viele Menschen in die Steppen Neurusslands. Die Dörfer dieser „Schwarzmeerdeutschen“ existierten bis zu den Deportationen in der Stalin-Zeit.
Neue Kredite
Vor allem fehlen Mittel für Investitionen. An neue Kredite kommen russische Unternehmen nur für teures Geld – und infolge der Sanktionen gehen für die Tilgung der Verbindlichkeiten im Ausland große Summen drauf. Zwar sei das Schuldenproblem nicht ganz so groß wie befürchtet, sagt Experte Sergej Romantschuk.
Große Teile der Verbindlichkeiten gegenüber dem Ausland seien Schulden gegenüber eigenen Offshore-Gesellschaften, deren Aktionäre letztendlich wieder Russen sind. So konnte etwa die Hälfte der fälligen Verpflichtungen im laufenden Jahr verlängert werden.
Die nötigen Zahlungen von 150 Milliarden Dollar für 2015 seien bei Devisenreserven in Höhe von 416,5 Milliarden Dollar kein Problem. Letztlich reicht dies aber nur, um den Kollaps abzuwenden. „Ein Neustart für das russische Wachstum ist nur durch Abschaffung der Sanktionen möglich“, sagt Romantschuk. Dafür braucht es politische Einsicht seitens des Kremls, was im Moment kaum jemand erwartet.
Trotzdem sorgt sich Verkäufer Viktor Semenko nicht um seinen Job, denn irgendwie geht es in Russland immer weiter: „In den Neunzigerjahren kaufte bei uns die Mafia ein, dann kam der Crash 1998, die Krise 2008“, sagt er, „und jedes Mal haben unsere Chefs es irgendwie überstanden.“