Tauchsieder

Ein guter, ein schlechter, ein fauler Kompromiss?

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Kein direkter Weg nach Westen

Drittens aber: Weil wir der Ukraine derzeit keine EU- und NATO-Mitgliedschaft anbieten können, müssen sich die Menschen dort mit dem Gedanken vertraut machen, dass für sie im Moment kein direkter Weg nach Westen führt. Und mehr noch: Es kann sogar sein, dass a) die territoriale Integrität der Ukraine politisch nicht aufrechtzuerhalten ist, b) die Autonomie von Teilen der Ostukraine sehr weitreichend akzeptiert werden muss und c) die Krim an Russland (vorerst) verloren ist. Insofern war Wladimir Putin bereits vor dem 16-stündigen Verhandlungsmarathon in Minsk in einer komfortablen Situation.

 

Und insofern ist auch die Grenze vom guten zum schlechten Kompromiss eindeutig überschritten. Seine Quintessenz ist: Eine russische Machtclique um Putin, die "Einkreisungsängste" zur Staatsräson erhebt und eine Bevölkerung unter Chauvinismus-Zwang setzt, die gegen die zivilisatorischen und kulturellen Vorzüge des Westens ganz sicher nichts einzuwenden hätte, setzt ihre Großmachtansprüche mit Gewalt in einem benachbarten, souveränen Staat durch - gegen den Willen einer Mehrheit von Menschen in diesem Staat. Und "der Westen" bietet diesen Menschen nichts anderes an als eine "langfristige" (keineswegs sichere) Perspektive in Richtung (West-)Europa. Das ist umso problematischer, weil Putin, Merkel und Hollande in gewisser Weise über die Ukraine hinweg entscheiden, dass sie künftig als "Pufferstaat" eine funktionale Aufgabe in den Beziehungen zwischen Europa und Russland zu erfüllen hat - ganz gleich ob das dem Willen der Ukrainer entspricht oder nicht.

Ist aber der schlechte Kompromiss zugleich auch ein fauler Kompromiss? Nein, das ist er nicht. Ein Vergleich des Minsker Abkommens mit dem Münchener Abkommen, wie ihn zahlreiche US-Politiker anstellen, ist so abwegig wie der Vergleich des Krieges in der Ostukraine als Beispiel weltpolitischer Zuspitzung mit der Kuba-Krise 1962. Putin ist ein zynischer Potentat, der seine Bevölkerung systematisch belügt und manipuliert, gewiss, ein eiskalter Machtpolitiker, der Oppositionelle einschüchtert, verfolgt und einsperrt, ein kaum halbdemokratisch gewählter Alleinherrscher, der dostojewskische Seelen-Mythologie, völkisches Testosteron und Dutzende von Panzern gegen den Liberalismus des Westens in Stellung bringt, um sein bröckelndes Machtfundament zu kitten. Aber er ist ganz gewiss kein Hitler, der die Idee der Moral schlechthin in Frage stellt. 

 

Natürlich, der Preis, den die Ukraine für den "gerechtfertigten Frieden" zu zahlen hat, ist ausgesprochen hoch: Die "Separatisten" bleiben vorerst im Land, müssen von Kiew sogar amnestiert - und finanziert - werden. Es ist nun an der Ukraine, dem Donbass Autonomierechte einzuräumen und die Verfassung zu ändern - und es sind die von Russland entsendeten Separatisten, die nun jede "Verletzung" des Minsker Abkommens zum Anlass nehmen können, aus "besseren Gründen" denn je erneut loszuschlagen. Doch so hoch der Preis auch ist - er rechtfertigt, Stand heute, keine Eskalation des Krieges - und womöglich rechtfertigt er die Eskalation auch dann nicht, wenn die Preisgabe der Krim nicht nur faktisch, sondern auch politisch vollzogen würde.

Darüber, über den künftigen Status der Krim, steht im Minsker Abkommen kein Wort. Die Krimfrage ist vorerst ausgeklammert - und damit letztlich auch die Frage, wie schlecht der Kompromiss mit Putin ist. Denn die Krim, so viel ist klar, kann jederzeit "der Stoff zu einem künftigen Kriege" sein, den bereits Immanuel Kant aus allen Waffenstillstandsabkommen verbannt wissen wollte.

Vorerst gilt: Minsk steht sicher nicht für einen guten Kompromiss, aber mit Sicherheit auch nicht für einen faulen. Ziel eines Waffenstillstandes ist nicht "Gerechtigkeit", sondern die Wiederherstellung der Grundlagen eines normalen Alltagslebens. Das könnte - fürs Erste - erreicht sein. Zu einem Frieden aber gehört mehr. Zu einem Frieden gehört, dass der erzielte Kompromiss für einen Waffenstillstand mit Vertrauen beseelt wird, indem man ihn buchstabengetreu umsetzt, kurz: dass man ihn nicht mögen muss, sich aber trotzdem an ihn gebunden weiß. Nur wenn Merkel, Hollande, Putin und die Separatisten, allen voran aber die Ukraine wirklich davon überzeugt sind, dass der Preis der Gerechtigkeit für den Frieden in Minsk angemessen taxiert wurde, wird er das Papier wert sein, auf dem er festgehalten wurde. 

*Avishai Margalit, Über Kompromisse und faule Kompromisse, Suhrkamp 2011, 22,90 Euro (e-book 19,99 Euro)

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