Terrorismus Angriff auf die Insel der Seligen

Der religiöse Terrorismus erreicht Europa mit aller Macht. Die bisherige Insel der Seligen hat Probleme damit umzugehen. Denn wie soll man als zivilisierte Gesellschaft gegen entzivilisierte Gruppierung kämpfen?

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Viele Flüchtlinge kommen auf einer der griechischen Inseln an - wie hier auf Rhodos. Quelle: dpa

Terrorismus ist der Höhepunkt des Nihilismus. Dieser Nihilismus betreibt die radikale Auslöschung der vielen Einzelnen, ihrer zivilisatorischen Werte, ihrer Gemeinschaft, des Sozialen, vor allem auch die Chance einer einmal doch für möglich gehaltenen Weltgemeinschaft.

Dieser Rachefeldzug des Nihilismus kennt keine Utopie, hat keine Vision, er hat keine Religion, da er keinen Glauben kennt. Er verwirklicht sich in der absoluten, gewalttätigen Hoffnungslosigkeit des Hier und Jetzt der Täter, auf Erden doch noch eine zukunftsoffene Existenz führen zu können. Der Terrorismus findet seine einzige Bestimmung im Ver-Nichten und führt deshalb immer ins Nichts. Religiös motiviert? Keine Religion der Welt ist so erbärmlich erbarmungslos.  It’s politics, stupid!

Seitdem der Terror Millionen aus Syrien, Afghanistan, Somalia und anderen Regionen nach Europa vertreibt, ertrinken auf dem Weg zum gelobten Kontinent Tausende vor unserer europäischen Haustür. Dieses abstrakte Wissen wurde handgreiflich, dann herzergreifend, als das Foto des an der türkischen Küste an Land gespülten Kindes aus Syrien uns ins Wohnzimmer geschickt wurde. Doch dieser Terror ist eine weltweite Seuche. Hunderttausende sind bereits seine Opfer – im Fernen und im Nahen Osten, in Lateinamerika, in Afrika und schließlich auch bei uns, in Europa.

Waren im Jahre 2014 weltweit rund 33.000 gezählte Menschen (Institut für Wirtschaft und Frieden, London) durch Terror vernichtet wurden, so fühlen wir Europäer uns jetzt erst bedroht: Als Folge der globalen Krisen ist der Terror in Paris – zuerst gegen Charlie Hebdo im Januar 2015, dann gegen das Bataclan und ganz Paris – brachial in unser Bewusstsein eingedrungen. Anders als Ebola oder Dengue lässt sich die von Menschen selbst angerichtete Seuche Terrorismus nicht länger auf den anderen Kontinente eindämmen.

Die neuesten Zahlen (2014) über den Terrorismus sind so erhellend wie überraschend: In westlichen Ländern ist der islamische Fundamentalismus entgegen unserer Wahrnehmung nicht die Hauptursache für Terrorismus: 80 Prozent aller Getöteten standen nicht im Fadenkreuz von Dschihadisten, sondern sind Opfer von Einzeltätern, die politische oder religiöse Extremisten, Nationalisten oder Rassisten.


Kein Kampf von Zivilisationen auf Augenhöhe

Außerhalb Europas ist die Lage viel prekärer. Allein der Irak hatte im vergangenen Jahr 9929 Tote zu beklagen, die höchste jemals in einem einzigen Land erfasste Zahl. In Nigeria starben 7512 Menschen infolge terroristischer Anschläge. 78 Prozent aller Todesfälle und 57 Prozent aller Angriffe konzentrierten sich auf fünf Länder: Afghanistan, Irak, Nigeria, Pakistan und Syrien. Elf Länder hatten 2014 mehr als 500 Terror-Tote zu beklagen. Neu hinzugekommen sind Somalia, die Ukraine, der Jemen, die Zentralafrikanische Republik, der Südsudan und Kamerun.

Die Opfer in Europa hatten zumeist nichts, aber rein gar nichts mit den politischen Ursachen von Extremismus, Radikalismus, Unterdrückung, Ausbeutung und Hunger zu tun. Sie waren unschuldige Zufallsopfer. Dieser Horror des absolut Unberechenbaren ist der Sinn dieser Abart des asymmetrischen Kriegs von Terroristen, die ganze Gesellschaften, Gemeinschaften und Zivilisationen ins Fadenkreuz ihrer automatischen Sturmgewehre, Brandbomben, Granaten und Pistolen nehmen. Nicht die uniformierte Frontreihe, nein, die zivile und unbewaffnete Bürgerschaft soll Opfer dieser nie erklärten Kriege werden.

Der Terror in Europa ist in Wahrheit ein Ansturm gegen eine der letzten Inseln der Seligen dieser Welt, von relativ großem Reichtum und relativ friedlichem Zusammenleben gekennzeichnet – ganz im Gegensatz zu den unbefriedeten, gewaltzerfressenen Heimatregionen der Terroristen. Der Clash of Civilizations ist deshalb ein missratenes Bild, um diesen Hintergrund des Terrors zu bezeichnen. Denn hier kämpft keine Zivilisation auf Augenhöhe gegen eine andere, sondern es kämpfen abgrundtief entzivilisierte Terroristen gegen durchzivilisierte Gesellschaften, an deren entzivilisierten Rändern marginalisierte und entprivilegierte Menschen tagtäglich um ein menschenwürdiges Leben kämpfen. Diese wie jene Desperados verbünden sich jetzt in einem Terrorkampf von Losern, zumindest von solchen, die sich dafür halten müssen und dafür auch viele Gründe ins Feld führen können.

Ein tief schwärender Grund ist dabei die meist nicht widerlegbare Vermutung, in diesem ihrem einen Leben keinen friedlichen Weg mehr aus ihrer marginalisierten Existenz finden zu können. Dieses existenzielle Wissen um die Aussichtslosigkeit der eigenen Existenz sollte man nicht unterschätzen. Es scheidet tödliche Gifte und gebiert unbeherrschbare Reaktionen. Ein Wissen darum, ein Leben ohne echte, ohne besser Zukunft führen zu müssen, keinerlei Gewähr für den „pursuit of happiness“, für ein auch nur ansatzweise hoffnungsfrohes Streben nach Glück, ist tödlich.


Terror ist ein Zeichen absoluter Schwäche

Denn selbst der brutalste Terror, wie er im Jahre 2015 so grauenhaft viele Menschen in Europa, im Nahen Osten, Südamerika, USA und Fern-Ost heimgesucht und getroffen hat, ist ein Zeichen absoluter Schwäche, er ist das Signum der Ohnmacht. Ja doch, es fällt uns verdammt schwer, hinter Verderben bringenden, tödlichen Panzerfäusten und Sturmgewehrten Schwäche zu vermuten. Aber diese absoluten Übeltaten sind letztlich nur ein letzter, blinder Rückgriff auf die alles vernichtende Gewalt, die ja auch den Täter vernichtet, vielleicht sogar schon sehr lange bevor er die Granate wirft, die Bombe zündet oder die Kalaschnikow entsichert.

Eine solche Betrachtung rechtfertigt oder entschuldigt nichts. Sie hat noch nicht einmal mildernde Umstände oder gar Empathie im Angebot. Bestenfalls will diese Zustandsbeschreibung das Tragische auch solcher verlorener Existenzen benennen, die viel unbeschreibliches und nicht zu bewältigendes Unglück aus sich selbst destillieren und weiter verbreiten. Sie ist eine Bestandsaufnahme des Terrors als giftige und infizierende Verzweiflung.

„Die Wahrheit braucht Zeit“, hat einmal ein kluger Kopf geschrieben. Zur sich nur langsam einstellenden Wahrheit des Terrorismus gehört, dass auch diese Seuche weder primär durch Gegenterrorismus – Krieg und andere Rachefeldzüge – noch per polizeistaatlicher Methoden à la Abu Ghraib oder Guantanamo auszulöschen ist. Das gilt es zu begreifen. Solange sich jene gewaltgeschüttelten Regionen dieser einen Welt (sie wurden oben alle genannt), in der tagtäglich gewaltsam Terroristen am Fließband produziert werden, und die sich nicht selber befrieden und zivilisieren können, schwappt der tödliche Reigen auch zu uns über.

Womöglich bleibt da unserer Insel der Seligen wenig mehr übrig, als mit größtem politischen und vor allem materiellen Aufwand Beihilfe zur Besserung zu leisten, diesem Prozess zu mehr Frieden mit mehr Wohlstand in den Seuchengebieten des Terrors auf die Sprünge zu helfen. 

Man vergisst es zu schnell: Sämtliche Seuchen dieser Welt, auch der virulente Terrorismus, werden in den erbärmlich verarmten Regionen der Welt gezeugt. Nur Hilfe genau hier kann mittelfristig den Unterschied machen und den Nährboden für den terroristischen Nihilismus austrocknen. Befriedend wirkt sie allemal.

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