Ukraine-Krise Höchste Zeit für Realpolitik

In der Ostukraine stehen wichtige militärische und politische Entscheidungen bevor. Es geht um Milliardensummen und um Erdgas, weniger um das Wohl der Bevölkerung. Deshalb muss die Bundesregierung jetzt rasch auf einen Ausgleich mit Russland hinarbeiten.

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Wladimir Putin Quelle: AP

Weder die USA noch die Europäische Union (EU) verfolgen im Konflikt mit Russland um die Krim und die Ostukraine realistische Ziele. Strategische Interessen der USA in der Ukraine lassen sich unterstellen mit Blick auf eine mögliche Ausweitung der Nato, der Energieinfrastruktur und die Erdgasreserven im Osten des Landes. Rational nachvollziehbar sind diese natürlich nicht. Sehr nebulös wirken auch die außenpolitischen Ambitionen der EU. Ursprünglich hatte Brüssel nur das Mandat, mit der Ukraine Gespräche über neue Handelsbeziehungen zu führen. Im Zuge der Verhandlungen zu einem Assoziationsabkommen haben die in außenpolitischen Dingen unerfahrenen Brüsseler Technokraten um den damaligen EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso der Ukraine dann plötzlich die Pistole auf die Brust gesetzt und vor die Wahl gestellt - entweder Russland oder die EU. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton wurde dabei umgangen und der Kreml herausgefordert. Die im Juni unterzeichneten Assoziationsabkommen der EU mit Georgien und der Republik Moldau waren die nächsten Provokationen. Deeskalation funktioniert anders. Wie in der Ukraine könnte die EU auch mit diesen Assoziationsabkommen die Vorreiterrolle für die Nato übernommen haben. Im US-Kongress zumindest werden bereits Stimmen laut, die eine Kontrolle von Moldawien und Georgien durch die Nato fordern.

Je weiter Russlands Einfluss im Osten der Ukraine zurückgedrängt wird, um so größer wird die Gefahr, dass Moskau bei weiteren Avancen der Nato in Osteuropa auch in anderen Ländern einen Konflikt vom Zaun bricht. So könnte der Grenzstreit zwischen dem mit Russland liierten Armenien und Aserbaidschan um die Region Bergkarabach mit Hilfe Moskaus friedlich beigelegt werden - oder eben nicht. 1994 wurde dort noch geschossen.

Geplante neue EU-Sanktionen gegen Russland

Die politischen Eliten in den USA haben sich mit der Dämonisierung des russischen Präsidenten Wladimir Putin völlig verrannt. Offensichtlich wird die Russlandpolitik der USA mehr geprägt von den im November anstehenden Kongresswahlen als von Rationalität. Vielleicht werfen auch schon die Präsidentschaftswahlen in gut zwei Jahren ihren Schatten voraus. Wie es langfristig in Europa weitergeht, scheint in Washington nicht so wichtig zu sein. Die Ukraine droht zu einer erweiterten Spielwiese amerikanischer Wahlkämpfe zu werden, in deren Mittelpunkt die Sanktionspolitik steht. Die von den USA initiierte letzte Sanktionsrunde sollte Russland für seine Rolle im Zusammenhang mit dem Absturz des malaysischen Passagierflugzeuges bestrafen. Die EU dackelte brav hinterher. Damit wird jede von den amerikanischen Vorverurteilungen abweichende Erkenntnis zu spät kommen.

Krisenländer von Russland bis Nordafrika

Die Sanktionspolitik führt in eine Sackgasse. Untersuchungen von Gary Clyde Hufbauer vom Peterson Institute for International Economics in Washington zeigen, dass seit 1914 Sanktionen zur Beendigung kleinerer militärischer Auseinandersetzungen nur in einem von fünf Fällen zum Erfolg geführt haben. Auch scheint die EU von den russischen Gegensanktionen überrascht worden zu sein. So lassen sich zumindest die offiziellen Reaktionen deuten. Hermann Van Rompuy könnte noch sein blaues Wunder erleben. Der EU-Ratspräsident geht nämlich davon aus, dass die Sanktionen zwar einen starken Einfluss auf die russische Wirtschaft haben, aber nur moderat auf die Volkswirtschaften der EU durchschlagen. Nach den Reaktionen der Finanzmärkte zu urteilen verhält es sich eher umgekehrt.

In Washington hat man bis heute nicht erkannt, dass auch Wladimir Putin unter einem hohen innenpolitischen Druck steht. Der Bundesnachrichtendienst BND berichtet etwa über einen Machtkampf, der im Kreml zwischen den Hardlinern und den Führern der großen russischen Unternehmen toben soll. Das Verhalten Russlands lässt sich damit zwar nicht entschuldigen, aber im Vergleich zu anderen Figuren in der politischen Landschaft des Landes ist Putin wohl eher noch ein moderater Vertreter. Die USA sollten sich also genau überlegen, ob ein „Regime-Wechsel“ in Russland tatsächlich im Interesse des Westens wäre. Gegenüber der ultranationalistischen Ideologie eines Alexander Dugin ist der amtierende Kreml-Chef eindeutig das geringere Übel.

Zustimmungswerte von 80 Prozent für Putin

Aber so weit wird es nicht kommen. Putin genießt in der heimischen Bevölkerung inzwischen Kultstatus. Je mehr der Westen den russischen Präsidenten dämonisiert, desto höher steigt sein Kurs auf der Beliebtheitsskala seiner Landsleute. Dort kommt er nach den verschärften Sanktionen inzwischen auf Zustimmungswerte jenseits von 80 Prozent. Nur zum Vergleich: Der britische Premier David Cameron schafft es bei seinen Landsleuten auf 30 Prozent, Frankreichs Staatspräsident François Hollande gilt mit nur noch 18 Prozent Zuspruch in seiner Heimat als Totalversager.

Mit Blick auf die Ukraine-Krise fordert Gabor Steingart, Herausgeber des „Handelsblatt“, in einem lesenswerten Artikel („ Der Irrweg des Westens“) die Bundesregierung auf, sich an der Realpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr zu orientieren. Vielleicht ist man in dieser Hinsicht in Berlin gar flexibler als gedacht. Ende Juli berichtete die angesehene britische Tageszeitung „Independent“ von einem Geheimabkommen zwischen Russland und Deutschland zur schrittweisen Beilegung der Ukraine-Krise. Wegen des Absturzes des malaysischen Passagierflugzeuges sollen die Verhandlungen dann abgebrochen worden sein.

Zeitungsente oder nicht, die im „Independent“ beschriebene Vorgehensweise zur Lösung des Ukraine-Konflikts war das Vernünftigste, was bisher auf dem Tisch lag. Ziel des Plans zwischen Berlin und Moskau soll gewesen sein, die Grenzen der Ukraine zu stabilisieren, die Energieversorgung zu sichern und der Wirtschaft des Landes einen kräftigen Schub zu verleihen. Für mehr Unabhängigkeit der Ostukraine hätte Russland den Separatisten die Unterstützung entzogen. Für den Verzicht auf einen Beitritt der Ukraine zur Nato hätte Putin das Assoziationsabkommen der EU mit der Ukraine akzeptiert. Die Ukraine hätte einen langfristigen Gasliefervertrag mit Gazprom zu festgelegten Preisen erhalten und bis zu einem Referendum über die Unabhängigkeit der Krim eine Milliarden Dollar schwere Kompensationszahlung erhalten als Ersatz für die bisherigen Zahlungen im Zusammenhang mit der Stationierung der russischen Schwarzmeerflotte im Hafen von Sewastopol. Der Haken: Die Krim wäre endgültig an Russland gefallen. Zudem wären die Geheimverhandlungen vermutlich nicht geheim geblieben. Denn ohne Zustimmung von Dmitri Firtasch geht in der Ukraine in Sachen Gas nichts. Mit seiner Beteiligung von 45 Prozent an RosUkrEnergo, einem hochprofitablen Zwischenhändler für Gaslieferungen aus Russland, gehört Firtash zu den reichsten Männern der Ukraine. Gazprom ist mit 50 Prozent an RosUkrEnergo beteiligt. Der Multi-Milliardär hatte zwischen 2006 und 2009 den ersten großen Gasdeal zwischen der Ukraine und Russland ausgehandelt. Firtasch ist gut vernetzt, sowohl in der russischen also auch in der ukrainischen Führung. Nicht jedem Mächtigen in Kiew könnte an Entspannung gelegen sein.

Realismus ist auch im Hinblick auf einen politischen Neuanfang in der Ukraine gefragt. Das Land wird seit Jahren von der politischen Klasse ausgeplündert. Die Verquickung von Oligarchen und Politikern stellt gar die Verhältnisse in Russland unter Boris Jelzin in den Schatten. Der Westen bewegt sich hier auf Treibsand. Nach der Svoboda-Partei hat sich mit der Radikalen Partei unter Oleg Ljaschko eine weitere große Partei am rechtsextremen Ende des politischen Spektrums der Ukraine in Position gebracht. Nach Umfragen käme sie bei Neuwahlen derzeit auf mehr als 15 Prozent der Wählerstimmen und wäre damit hinter der „Solidarität“ des amtierenden Präsidenten Petro Poroschenko die zweitgrößte politische Kraft im Land. Das politische Programm von Ljascko beschränkt sich im Wesentlichen auf Selbstbereicherung. So wird wohl ein Teil der vom Internationalen Währungsfonds (IWF), der EU und den USA versprochenen 35 Milliarden Dollar für die Ukraine bei den Rechtsnationalen landen. Die Aussicht auf die Milliarden aus dem Westen verschärft die Krise ebenso wie das Junktim des IWF, die Gelder nur dann auszuzahlen, wenn die Ostukraine wieder unter Kontrolle von Kiew steht. Der ukrainischen Bevölkerung ist es dagegen völlig egal, wer die nächsten Wahlen gewinnt. Die Menschen bewegt nur, dass sie von 2015 an ihre Erdgasrechnungen wegen der vom IWF verlangten Preiserhöhungen nicht mehr bezahlen können.

Wenn in Kiew von „territorialer Integrität“ die Rede ist, geht es nicht um veraltete Industrien aus Sowjetzeiten im Osten und schon gar nicht um die Einheit der Ukraine. Es geht um Erdgas. Die Gasreserven des Landes haben eine friedliche Lösung der Krise nahezu unmöglich gemacht. Dumm für die Separatisten, dass sie auf einem Großteil der ukrainischen Gasreserven sitzen. Aus dem Dnjepr-Donezk-Becken kommt 90 Prozent der ukrainischen Gasproduktion. Die US Energy Information Administration (EIA) schätzt die Erdgasvorkommen in der Ostukraine auf 5.578 Milliarden Kubikmeter. Davon seien derzeit 1.189 Milliarden Kubikmeter ökonomisch verwertbar. Zum Vergleich: Die bestätigten Erdgasreserven der USA lagen Ende 2012 bei 8.976 Milliarden Kubikmetern. Eine Lizenz zur Entwicklung von Schiefergasvorkommen in der Ostukraine besitzt Burisma Holdings. Im Mai wurde Hunter Biden in den Verwaltungsrat des größten Gasproduzenten der Ukraine berufen. Bidens Vater Joe ist Vizepräsident der USA.

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