Wachsende Metropolen Das Drama der Megastädte

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Einkaufsviertel Shibuya in Tokio: Inseln in einem städtischen Archipel Quelle: AP

Das Rhein-Ruhr-Gebiet mit seinen elf Millionen Einwohnern ist der größte mega-urbane Raum in Europa; „Greater Bangkok“ erstreckt sich in fünf umliegende Provinzen hinein; um den Häuserhaufen von Pune (Indien) und all die kleineren Städte und Dörfer, die sich die Stadt förmlich einverleibt hat, ließe sich leicht ein Radius von 100 Kilometern ziehen; Tokio wiederum ist nicht einmal als politische Einheit existent, weil seine 23 Stadtkern-Kommunen so etwas wie urbane Inseln in einem städtischen Archipel bilden und sich selbst verwalten – und weil niemand, der Shinjuku City mit dem Zug verlässt, auch nur ungefähr bestimmen kann, wo die Superstruktur Tokio endet – und wo sie in benachbarte Städte wie Kawasaki, Chiba oder Yokohama übergeht.

Megastädte sind heute keine festen Größen mehr; ihre Einwohnerzahl schwankt stark. Das hoffnungslos zubetonierte Ostufer des Perlflussdeltas zum Beispiel, die „Fabrik der Welt“, die sich als schier endloses Häusermeer über 150 Kilometer von Shenzhen über Dongguan bis nach Guangzhou erstreckt, hat in der Weltwirtschaftskrise bis zu vier Millionen Wanderarbeiter verloren – und ist damit um 10 bis 15 Prozent seiner Einwohner geschrumpft. Der Gouverneur der indonesischen Hauptstadt Jakarta wiederum weiß von signifikanter saisonaler Migration zu berichten: Jeder dritte bis vierte Einwohner der Acht- bis Elf-Millionen-Stadt, der als Taxifahrer, Straßenverkäufer oder Bauarbeiter eine Handvoll Rupien verdient, hat seinen Lebensmittelpunkt in der provinziellen Heimat, auf dem Land – und kehrt Jakarta regelmäßig zur Erntezeit den Rücken, um den Seinen beim Einholen von Reis und Maniok zu helfen.

Auch aus einem anderen Grund lässt sich zunehmend weniger scharf zwischen Stadt- und Landbevölkerung unterscheiden: Kinshasa, die Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo, die in den vergangenen 60 Jahren – wie auch Dhaka, Lagos, Luanda (Angola) und Khartum (Sudan) – um den Faktor 40 auf knapp zehn Millionen Einwohner angewachsen ist, hat sich völlig unkontrolliert und unverdichtet zugleich ausgebreitet; die Stadt beginnt gleich an den Rändern ihres Zentrums, entlang staubiger Stolperstraßen und stillgelegter Gleise in Richtung Flugplatz und der Hafenstadt Matadi auszufransen: ein polyzentrisches Geflecht ohne Kern und Peripherie, eine zusammenhanglose Agglomeration hybrider Dorfslum-Siedlungen, die nicht mehr ländlich sind und noch nicht urban, deren Bewohner teilweise von Gelegenheitsarbeit leben oder ein kümmerliches subsistenzwirtschaftliches Dasein fristen, mit ein paar dreckig-dünnen Hühnern und Ziegen, die zwischen Speiseresten und achtlos vor die Blechhüttentüren gekipptem Hausmüll herumlaufen.

Jeder sechste Erdbewohner wohnt heute in Slums

Grafik: Anteil der Slumbewohner an der städtischen Bevölkerung

Unregierbare Menschenmassen, saisonale Migration, multilokale Haushalte, urbanes Agrarland, ausufernde Slumlandschaften – das also ist die düstere Zukunft der Megastadt? Fast scheint es so. Lediglich China, Südkorea und Taiwan scheinen dank eines gewaltigen Zustroms von ausländischem Kapital und dank des Erfolges ihrer Exportindustrien halbwegs die urbane Wende der industriellen Revolution nachvollziehen zu können, die sich ohne arbeitsteilig ausdifferenzierte Wirtschaft, reife Kapitalmärkte, innovative Agrartechniken, billige Kolonialimporte und wachsende Konsumbedürfnisse in Europa und Nordamerika niemals vollzogen hätte. In den meisten Schwellen- und Entwicklungsländern jedoch fehlen dem städtischen Wachstum die elementaren ökonomischen Grundlagen. Buenos Aires, São Paulo, Mumbai und Lagos leiden seit den Achtzigerjahren unter Deindustrialisierung und massiven Rezessionen – und wachsen dennoch munter weiter. Kinshasa, Luanda, Khartoum und Lima verfügen weder über reichlich Arbeitsplätze in der Industrie noch Jobs im öffentlichem Sektor – und trotzdem reißt der Strom der Zuwanderer nicht ab.

Von „Urbanisierung ohne Urbanität“ spricht der amerikanische Stadtforscher Mike Davis. Jeder dritte Städter, also jeder sechste Erdbewohner lebt, nach vorsichtigen Schätzungen der UN, heute schon in Slums, ohne auf Dauer angelegtes Dach über dem Kopf und ohne Zugang zu geregelten Dienstleistungen. Millionen leben auf der Straße. In Ländern wie Angola, Bangladesch und Nigeria sind bis zu 80 Prozent der städtischen Bevölkerung in verwahrlosten Squattersiedlungen untergebracht. Indische Slums wachsen zweieinhalbmal so schnell wie indische Städte. Und in den Favelas, Barriadas, Tondos, Bidonvilles und Shanty Towns von Mexiko, Lima, Manila, Mumbai, Delhi, Dhaka, Kairo, Lagos und Kinshasa existieren jeweils bis zu acht Millionen Menschen ohne, so die klassische Slumdefinition, angemessenen Zugang zu Trinkwasser und sanitären Einrichtungen.

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