Deutschland ist ein liberales Land. Wir haben eine liberale Wirtschaftsordnung und eine liberale politische Verfassung. Und dennoch ist Liberalismus als Idee und Argument verpönt.
Denn der deutsche politische Diskurs ist sozialdemokratisch geprägt, mit der Linkspartei als tonangebender Avantgarde. Es geht fast ausschließlich um die Frage, ob die Leistungen, die die Bürger qua Umverteilung erhalten, auch ausreichen. Verteilungsgerechtigkeit ist der Dreh- und Angelpunkt eines Diskurses, in dem sich die Parteien geradezu überbieten im Erfinden von immer neuen Angeboten, als benachteiligt anzusehende Personengruppen zu identifizieren und ihnen Steuergelder zukommen zu lassen.
Dieser Diskurs, diese Rhetorik steht freilich in seltsamem Gegensatz zu einer Realität, in der sich die Staatsquote dann doch in Maßen hält - im internationalen Vergleich - und in der die Steuerlast alles in allem in einem noch akzeptablen Verhältnis zu dem steht, was die Bürger an Ansprüchen an den Staat geltend machen können.
Das liegt daran, dass Deutschland in Wahrheit eben nicht nach sozialistischen, sondern im wesentlichen nach liberalen Prinzipien funktioniert.
Die Realität der deutschen Wirtschaft wird durch unternehmerisches Denken und Handeln geprägt, die Wirtschaftsordnung gibt diesem Unternehmertum genügend Raum und Unterstützung. Und die Realität des politischen Lebens findet im Rahmen von Institutionen statt, wie sie der politische Liberalismus seit jeher ersehnt: Rechts- und Verfassungsstaat, Staatsbürgertum, repräsentative Demokratie.
Doch in unserer politischen Begriffswelt dominiert die Sprache und das Denken von Sozialdemokratie und Etatismus, allen voran der ominöse Kampfbegriff “soziale Gerechtigkeit”. Das mag auch damit zusammenhängen, dass die liberale Ordnung eben nicht erkämpft, sondern den Deutschen von den Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg auferlegt wurde. Die Deutschen haben diese Ordnung zwar mit Leben gefüllt, aber sich nie als die eigentlichen Autoren dieser Ordnung erlebt - sie nicht erstritten.
So hat sich ein Diskurs aus älteren Ansätzen weiter entwickelt, der den Liberalismus als Feind betrachtet. Liberal, oder noch schlimmer, neoliberal, ist verpönt, gilt als gemeinschaftsschädlich, egoistisch, darwinistisch. Der Liberale will das Eigenwohl auf Kosten der Gemeinschaft durchsetzen, weshalb der Staat dem blanken Egoismus der Individuen entgegentreten und ihn in Schach halten muss, als Agent des Gemeinwohls. Auf der einen Seite steht der tugendhafte Altruist, der gerne mehr Steuern zahlt und als Unternehmer weniger am Gewinn als vielmehr am gesellschaftlichen Auftrag interessiert ist. Auf der anderen Seite der ruchlose, amoralische, sozialschädliche Kapitalist, der sich auf Kosten der Gemeinschaft bereichert.
Prinzipien selbstbewusst vertreten
Die Aufgabe einer liberalen Partei in Deutschland bestünde darin, solchen Klischees zu widersprechen und die Auseinandersetzung um die Deutungshoheit endlich aufzunehmen. Sich jedoch für den Liberalismus gleichsam zu entschuldigen und ihn als “mitfühlend” zu relativieren bedeutet, den antiliberalen Diskurs zu bestätigen.
Die Aufgabe einer liberalen Partei wäre stattdessen, die Grundprinzipien des Liberalismus selbstbewusst und mit offenem Visier in die politische Debatte einzubringen und Deutungsmuster anzubieten, die in Konkurrenz zu sozialdemokratischen und konservativen Ideen stehen.
Damit hat die FDP aber seit jeher große Mühe. Obwohl der Liberalismus in Deutschland als Tatsache erfolgreich ist, ist es der FDP immer schwer gefallen, den argumentativen Bogen von der liberalen Praxis zur liberalen Begrifflichkeit zu schlagen. Wohl auch deshalb, weil die FDP eben selbst nicht nur liberale Interessen vertreten, sondern auch als Klientelpartei gedient hat. Leute mit Standesinteressen hören die liberale Botschaft gar nicht gerne.
Eine erneuerte FDP müsste sich dagegen von den alten Rollenmustern lösen und den Liberalismus wieder entdecken: als Befreiungsidee von Bevormundung und Zwang. Als eine Partei, die an die Fähigkeit von Menschen glaubt, sich selbst neu zu entwerfen und die eigenen Anlagen zu entwickeln und zur Blüte zu bringen - in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft - und die die Freiräume dafür schaffen und offen halten will. Eine Partei, die im Zweifelsfall darauf setzt, dass Individuen und Gruppen besser wissen, was gut für sie ist, als die Staatsbürokratie. Eine Partei, die den Staat nicht als Heiligtum, als Endzweck verehrt, sondern vor allem als pragmatisches Instrument ansieht, um Selbständigkeit zu unterstützen und zu fördern. Eine Partei, die liberale Prinzipien auch in der Außenpolitik vertritt, statt Autokratien schönzureden. Mit anderen Worten: Die FDP müsste die Sprache von Aufklärung und klassischem Liberalismus wieder entdecken, und sie als Instrumente einsetzen, um das Bestehende kritisch zu durchleuchten und Alternativen anzubieten.
Die Kernidee des politischen Liberalismus besteht darin, dass die Bürgergesellschaft den Staat besitzt und steuert, und nicht etwa eine selbsternannte Elite. Die Kernidee des wirtschaftlichen Liberalismus besteht darin, dass individuelles Gewinnstreben die Gesellschaft voranbringt, im Rahmen einer Marktordnung. Was beide Ideen verbindet ist der Glaube an den positiven Wert der Freiheit, der Selbständigkeit und der Selbstverwirklichung - an den Menschen als Bürger. Die Botschaft des Liberalismus ist so aktuell wie eh und je. Wir hören sie nur nicht, jedenfalls nicht von der FDP.