Zu den gravierendsten Vorwürfen, die Angela Merkel gemacht wurden, gehört dieser: Dass die Krisenkanzlerin vor lauter Ad-hoc-Rettungsaktionen irgendwann das große Ganze aus den Augen verlor. Merkel steuerte die Deutschen sicher durch die Stürme der Geschichte, behütete und beschützte sie, ja, das wohl, aber sie vergaß dabei, dass Schiff für die Zukunft zu ertüchtigen.
Diese Kritik kam besonders häufig von jenen, die heute regieren. Die Ampel verband mit ihrem Fortschrittversprechen deshalb nicht zuletzt den selbstbewussten Anspruch, einiges anders und auch besser zu machen. Eben nicht nur auf Sicht fahren und das jeweils akut Anstehende möglichst seriös wegregieren – sondern mit Weitblick agieren, grundsätzliche Reformen anstoßen. Wenn man so will: mit Weitblick und klarem Kurs regieren. Endlich mal wieder.
Die Ampel wollte Politik nicht nur als das begreifen, „was möglich ist“ (Merkel). Sondern als das, was Land, Leute und Standort brauchen. Hehre Ansprüche, pathetische Worte. Dann kam der Krieg.
Ihm folgten geradezu atemberaubender Pragmatismus und eine (trotz aller Irrungen und Wirrungen und Zögerlichkeiten) doch bemerkenswerte Entscheidungsschärfe, auch und gerade von den Grünen: die Gas-Bittsteller-Reise nach Katar und eine Renaissance der Kohlekraftwerke ganz vorne an. Dazu das 100 Milliarden Euro schwere Sondervermögen für die Bundeswehr. Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet. Das Ende von Nord Stream 2.
Doch der Pragmatismus hatte bisher einen blinden Fleck, und das war der Unwillen, ehrlich über eine Verlängerung der Atomkraft zu sprechen. Die „Prüfung“ im März geschah zu schnell, um wirklich glaubwürdig zu sein. Wenn in diesen Zeiten jedes bisschen hilft, dann hilft eben auch ein Weiterbetrieb der Meiler. Das sagt beispielsweise auch die Wirtschaftsweise Veronika Grimm, die nicht im Verdacht steht, der grünen Transformation im Weg zu stehen.
Nun prüft die Regierung die Atomfrage also doch noch einmal. Hoffentlich vorurteilsfrei. Denn genau das ist der umfassende Pragmatismus, den wir in den kommenden Wochen und Monaten wohl werden bitter nötig haben müssen. Energie und Ressourcen sparen, wo immer möglich, und so viele Quellen aktivieren wie nötig – darauf wird es jetzt ankommen. Und nur nebenbei: Wenn Putin den Gashahn nicht mehr richtig aufdrehen sollte, wird Tempo 130 auf der Autobahn unser geringstes Problem sein.
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