Fachkräfte-Zuwanderung „Es gibt Fälle, da geht über Monate niemand ans Telefon“

Quelle: Getty Images

FDP und Grüne wollen in der kommenden Bundesregierung Deutschland zum Zuwanderungsmagneten für Fachkräfte machen. Doch die Rechtslage an sich ist nur ein Teil des Problems – viel öfter verzweifeln deutsche Unternehmen und ihre ausländischen Bewerber an den Behörden, sagt die Expertin Bettina Offer.

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Bettina Offer ist Rechtsanwältin und Partner der auf Ausländerbeschäftigungsrecht spezialisierten Kanzlei Offer & Mastmann.

WirtschaftsWoche: Frau Offer, die künftige Ampelkoalition will „ein Punktesystem als zweite Säule zur Gewinnung von qualifizierten Fachkräften“ einführen, so steht es in ihrem Sondierungspapier. Ein solches System für Einwanderer, wie es in Kanada und Australien existiert: Ist das die Lösung, um den deutschen Fachkräftebedarf durch Zuwanderung zu decken?
Bettina Offer: Man könnte aus dem deutschen Einwanderungsrecht ohne allzu großen Aufwand bereits jetzt ein Punktesystem formen. Das klingt erst einmal gut, als fände man so die perfekte Formel für die qualifizierte Einwanderung. Was wir uns von Kanada abschauen sollten, sind allerdings andere Dinge.

Woran denken Sie?
Zuallererst daran, dass Politiker und die Verwaltung verstehen müssen: Fachkräftezuwanderung ist ein Geschäft. Interessenten muss man mit einem gewissen Dienstleistungsverständnis behandeln. Wer so mobil ist, darüber nachzudenken, aus Bangalore oder Mexico City zum Arbeiten nach Deutschland zu kommen, der sollte digital mit einer Zentralbehörde kommunizieren können.

Bettina Offer ist Rechtsanwältin und Partner der auf Ausländerbeschäftigungsrecht spezialisierten Kanzlei Offer & Mastmann. Quelle: PR

Sie begleiten im Auftrag von Unternehmen Fachkräfte aus dem Ausland nach Deutschland. Wie sieht der Kontakt mit den Behörden stattdessen aus?
Es gibt Fälle, da geht über Monate niemand ans Telefon. Geht man persönlich hin, steht man vor verschlossenen Türen. Wenn man sich an die übergeordnete Aufsichtsbehörde wendet, bekommt man die Rückmeldung, sie erreiche dort auch niemanden. In anderen Behörden sind die Mitarbeiter zwar da, aber man hat Warteschlangen wie bei der Wahl in Berlin. Es fehlt schlicht und einfach eine funktionierende Verwaltung.

Auch die Behörden spüren den Fachkräftemangel…
Und Ausländerbehörden sind vielfach die Stiefkinder der Kommunen, sie werden nicht priorisiert – Ausländer sind eben keine Wähler. Mitarbeiter sind dort beispielsweise tariflich schlechter gestellt als in Kfz-Zulassungsbehörden. Natürlich stellt sich da ein Drehtüreffekt ein: Kaum ist jemand eingearbeitet, ist er oder sie auch schon wieder weg und hat eine weniger überlastende, besser bezahlte Stelle angenommen.

Sie hatten die digitalen Kommunikationswege der kanadischen Verwaltung angesprochen. Wie sieht es da in Deutschland aus?
Es gibt hierzulande mehr als 500 Ausländerbehörden – aber sie verwenden keine einheitliche Software. Selbst die Formulare unterscheiden sich: Da muss das Wappen einer jeden Stadt darauf sein, sonst wird es nicht anerkannt.

Immerhin die für die Visa-Vergabe zuständigen deutschen Auslandsvertretungen bieten in den allermeisten Fällen eine Online-Terminbuchung an. Ein erster Schritt?
Wenn es denn anders gelöst wäre. Aber neue Termine werden weltweit um Mitternacht Berliner Zeit freigeschaltet. Je nachdem, wo in der Welt Sie sich befinden, müssen Sie sich dann innerhalb von Sekunden einwählen, um einen Termin zu ergattern. So etwas muten wir gefragten Fachkräften zu.

Im Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das im Frühjahr 2020 in Kraft getreten ist, hat der Bund die Länder angehalten, zentrale Ausländerbehörden einzurichten. Gerade die großen Einwanderungsländer Baden-Württemberg, Bayern und auch Hessen haben das nicht oder nur ergänzend getan. Ein Fehler?
Man sollte das Thema zentral anpacken. In dem Zusammenhang fände ich auch ein Einwanderungsministerium sehr hilfreich. Wie es jetzt ist, sind die Verfahren mit jeder lokalen Ausländerbehörde unterschiedlich. Einige unserer Mandanten führen Listen, wo der Kontakt mit der Verwaltung funktioniert – und steuern danach den Wohnort eines neuen ausländischen Mitarbeiters innerhalb ihres Einzugsgebiets. Ausländerbehörden sind ein Standortfaktor – aber die meisten Politiker haben das nicht verstanden.

Kommt die neue Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP, wollen die Koalitionäre laut Sondierungspapier „das Fachkräfteeinwanderungsgesetz praktikabler ausgestalten“. Was sollte sie dafür tun?
Der größte Fehler des bestehenden Systems ist, dass Arbeitgeber Probleme nicht in die Judikative tragen können.

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Das müssen Sie bitte genauer erklären.
Sagt in dem Verfahren beispielsweise die beteiligte Arbeitsagentur Nein, hat aber eine Fehlentscheidung getroffen, hat das Unternehmen keine Möglichkeit, gegen diese Entscheidung vorzugehen. Es soll dann die Fachkraft, die es nicht einstellen darf, überzeugen zu klagen – aber bevor Hochqualifizierte das tun, gehen sie eben stattdessen nach Holland oder Kanada. Arbeitgeber brauchen also erstens ein eigenständiges Widerspruchs - und Klagerecht.

Und zweitens?
Würde ich mir wünschen, die Erwerbs- von der Fluchtmigration zu trennen. Auch in den Ausländerbehörden ist der gedankliche Zwiespalt weit verbreitet, dass natürlich Ausländer nach Deutschland kommen dürfen sollen – aber doch bitte nicht zu viele. Man muss einmal ehrlich sagen, im Bereich der Fluchtmigration wird viel gelogen, zum Beispiel werden Pässe weggeworfen. Wenn nun die Mitarbeiter der Ausländerbehörde mit demselben kritischen, vielleicht misstrauischen Mindset an Harvard-Absolventen aus Indien herangehen wie an Flüchtlinge aus Syrien – das ist dann ein Problem.

Mehr zum Thema: IT-Fachleute, Handwerker, Pflegekräfte: Für sie sollte der Weg nach Deutschland mit dem Einwanderungsgesetz einfacher werden. Doch Probleme mit den Behörden bleiben. Eine kommende Bundesregierung dürfte nachjustieren.

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