WirtschaftsWoche: Herr Baum, Bundesinnenminister Thomas de Maizière fordert angesichts der neuen Bedrohungslage durch den Terrorismus eine „generelle Neuordnung der deutschen Sicherheitsarchitektur“ und einen „starken Bund“. Brauchen wir beides?
Zur Person
Gerhart Baum, 84, ist eine der profiliertesten Vertreter des linksliberalen Flügels der FDP. Der Politiker war von 1978 bis 1982 Bundesinnenminister unter der sozial-liberalen Regierung von Helmut Schmidt (SPD). Baum setzt sich vehement für den Schutz von Bürgerrechten ein. Für eine detaillierte Ansicht bitte auf die Grafik klicken.
Gerhart Baum: Ich halte eine Strukturdebatte dieser Dimension nicht für überzeugend. Das Sicherheitsbedürfnis wird parteipolitisch instrumentalisiert. Hier wird Wahlkampf gemacht! Was machen wir denn nach dem nächsten Anschlag? Nach jedem Anschlag wird ein neues Sicherheitspaket geschnürt, auch wenn es mit dem jeweiligen Anschlag nur wenig zu tun hat. Wenn es wirklich Defizite gibt, dann bin ich sofort bereit darauf zu reagieren: Aber tragen die Maßnahmen, die der Innenminister vorgeschlagen hat, zu mehr Sicherheit bei?
Und wie fällt Ihre Antwort dazu aus?
Ich bin skeptisch. Er hat mich bisher nicht überzeugt. Ich warne vor allem davor, dem Zentralismus zu viel zuzutrauen. Schauen Sie nach Frankreich. Unser Nachbarland wird zentral geführt, aber hat viele Probleme mit der Sicherheit im Land. Wir bekommen in Deutschland die Gefährdungslage nicht dadurch besser in den Griff, dass wir weitere Kompetenzen nach Berlin verlagern.
Aber ist es nicht beispielsweise sinnvoll, dem Bund „eine Steuerungskompetenz über alle Sicherheitsbehörden“ zu geben, wenn dies erforderlich scheint?
Der Bund hat doch schon heute wichtige Steuerungskompetenzen. Das Bundeskriminalamt hat seit 2004 die Kompetenz für die Abwehr des internationalen Terrorismus. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat vor kurzem neue Kompetenzen erhalten. Der Generalbundesanwalt kann in allen schwerwiegenden Staatsschutzstrafsachen einschreiten, die die innere oder äußere Sicherheit in besonderem Maße berühren. In diesem Fall übernimmt der Bund die Federführung bei den Ermittlungen. Und schließlich ist ja auch der Bund nicht unfehlbar. Wir brauchen kein deutsches FBI. Das Bundesverfassungsgericht hat im April vorigen Jahres in einem auch von mir erstrittenen Urteil die Kompetenzen des Bundeskriminalamtes klar definiert und begrenzt. Ich warte jetzt auf das in diesem Sinne überarbeitete BKA-Gesetz.
Aber sehen Sie denn keine Sicherheitslücke?
Dazu hat der Bundesinnenminister nur wenige überzeugende Fakten vorgelegt. Das wird sich bei einer eingehenden Diskussion der Vorschläge noch deutlicher herausstellen. Mehr Videoüberwachung, ein neuer Haftgrund für Gefährder - das sind problematische Vorschläge. Am meisten ärgert mich, dass jetzt wieder vom "Datenschutz als Täterschutz" die Rede ist. Das hat mir immer Franz Josef Strauß vorgeworfen. Wir wollen doch nicht die Täter schützen. Uns geht es um den Grundrechtsschutz der unbeteiligten Bürger. Wir bemühen uns darum, dass das Verhältnis Freiheit zu Sicherheit nicht aus dem Ruder läuft. Viele Vorschläge sind Volksverdummung, denn sie bringen nicht mehr Sicherheit.
„Der Attentäter hätte längst abgeschoben werden müssen“
Was meinen Sie?
Der Terroranschlag auf den Breitscheidplatz in Berlin hätte unter der herrschenden Gesetzeslage, wie es jetzt aussieht, verhindert werden können. Der Fall Amri ist ein Musterfall dafür, dass geltendes Recht nicht durchgesetzt worden ist. Der Attentäter hätte längst abgeschoben werden müssen. Er hätte in Abschiebehaft genommen werden müssen, bis er das Land verlässt. Tunesien hatte ihn auch als Staatsangehörigen anerkannt.
Das bedeutet der Anschlag von Berlin für die Sicherheit in Deutschland
Sicherheitsexperten glauben: Nein. Der Chef des Bundeskriminalamts (BKA), Holger Münch, sagt, die Gefährdungseinschätzung habe sich nicht verändert. „Wir haben schon vor der Tat gesagt, dass wir in Deutschland eine ernst zu nehmende Bedrohungslage haben. Dass der islamistische Terrorismus ganz maßgeblich die Sicherheitslage in Deutschland prägt“, betont er. Mit dem Attentat von Berlin habe sich die Gefährdungseinschätzung quasi realisiert. Deswegen geht Münch nun nicht von einer anderen Gefährdungslage aus.
Generalbundesanwalt Frank sagt, man müsse von einem terroristischen Hintergrund ausgehen. Dafür spricht nach seinen Angaben, dass ein Lkw benutzt wurde und der Anschlag in der deutschen Hauptstadt damit an das Attentat von Nizza vom 14. Juli erinnert. Am französischen Nationalfeiertag war ein islamistischer Attentäter mit einem Lastwagen in eine Menschenmenge gerast und hatte 86 Menschen getötet und mehr als 200 verletzt.
Hinzu komme das prominente und symbolträchtige Anschlagsziel Weihnachtsmarkt, sagt Frank. Außerdem führt er die Vorgehensweise des Attentäters an, den „Modus operandi“. Der ist schon länger in Aufrufen dschihadistischer Terrororganisationen zu finden. Aber es gebe kein Bekennervideo - und deswegen seien endgültige und abschließende Aussagen zum Hintergrund des Anschlags nicht möglich, sagt Frank. Die Polizei ermittele nach wie vor in alle Richtungen.
Grundsätzlich ja und seit längerem. Aber: Noch gibt es keinen Beleg, das der Islamische Staat (IS) tatsächlich hinter der Attacke steckt. Den Sicherheitsbehörden lagen zunächst kein Bekennerschreiben und kein Bekennervideo vor. Grundsätzlich sind Deutschland genau wie Frankreich, Großbritannien, Spanien oder andere europäische Staaten quasi seit Jahren im Visier islamistischer Terroristen.
Auch hier gilt, was Experten seit langem sagen: Absolute Sicherheit gibt es nicht. Zwar haben die Behörden in vielen Bundesländern die Sicherheitsmaßnahmen für Weihnachtsmärkte erhöht, zusätzliche Polizisten abgestellt und auch mehr Videoüberwachung installiert. Doch auch Betonpoller oder andere Schutzmaßnahmen dürften einen zu allem entschlossenen Attentäter kaum aufhalten.
Ja und Nein. Bis Montagabend war Deutschland von einem größeren Anschlag mit zahlreichen Toten und islamistischem Hintergrund verschont geblieben. Das hatte oft mit Glück, aber auch mit der Ermittlungsarbeit der deutschen Sicherheitsbehörden zu tun. Viele islamistische Heimkehrer aus den IS-Kriegsgebieten in Syrien und dem Irak sind als Gefährder bekannt und werden überwacht. Geholfen haben öfters auch die Kontakte zu befreundeten Geheimdiensten etwa wie dem umstrittenen US-Dienst National Security Agency (NSA). Die deutschen Geheimdienste haben in der Vergangenheit häufiger Tipps von ihren internationalen Kollegen erhalten.
Aber oft scheitert das daran, dass das eine Land nicht weiß, was das andere Land tut. Brauchen wir zum Beispiel 16 Landes-Verfassungsbehörden? Hat Thomas de Maizière nicht recht, wenn er sagt, dass „kein Gegner unserer Verfassung die Beseitigung der Verfassung in nur einem Bundesland anstrebt“?
Natürlich ist das kaum zu erwarten. Aber es rechtfertigt doch nicht, die Länder-Verfassungsbehörden generell in Frage zu stellen. Sie sind viel näher an den gefährlichen Milieus dran als eine Bundesbehörde es sein kann. Sie haben Einblick in radikal-islamistische Moscheevereine oder rechte Gruppierungen. „Terror von rechts", auch das ist eine akute Gefahr, also vor allem die fremdenfeindlich motivierte Gewalt. Natürlich müssen die Landesbehörden ihre Informationen mit anderen Behörden teilen. Aber das tun sie doch hoffentlich. Wozu habe wir denn "Gemeinsame Terrorabwehrzentren" in Berlin. Dort sitzen alle Sicherheitsorgane am Tisch. Die Person Amri ist dort mehrfach diskutiert worden. Da hätte man doch steuern können.
Wo sehen Sie denn Möglichkeiten der Verbesserung?
Keiner redet über Prävention, aber ich halte diese Maßnahme für zentral. Terror von rechts und links und islamistischen Gruppierungen können sie nicht nur mit den Sicherheitsorganen und der Justiz bekämpfen. Wir brauchen eine Präventionsstrategie wie zu Zeiten des RAF-Terrorismus. Wir müssen mit den potentiellen Tätern ins Gespräch kommen, um sie davon abzuhalten, Täter zu werden oder zu bleiben. Jedenfalls muss man es versuchen. Das ist durchaus erfolgreich bei rechtsextremistische Jugendlichen in Sachsen gelungen. Das ist mühevoll, nicht spektakulär und benötigt qualifiziertes Personal und Geld - und daran fehlt es.
Das dürfte mit in Deutschland sozialisierten RAF-Terroristen einfacher sein als mit zugewanderten Selbstmordattentätern aus dem Nahen Osten oder Nordafrika…
Richtig. Aber auch islamistische Initiativen bemühen sich hier intensiv um Prävention. Prävention ist auch über Moscheevereine, Schulen und Flüchtlingsheime möglich. Leider spielt das Thema Prävention in der politischen Debatte keine sichtbare Rolle. Ich halte das für eine Sicherheitslücke. Alles in allem: Der Staat ist nur stark durch seine Bürger. In schwierigen Zeiten muss die Demokratie stark sein. Die Demokraten dürfen nicht die Fassung verlieren. Wir sind ein relativ sicheres Land.