




Wer wissen will, was die SPD will, der sollte sich in diesem Tagen nicht nur das anhören, was der wiedergewählte Parteichef zu sagen hat. Man sollte besonders auf die starke Frau neben ihm hören: Andrea Nahles.
Am Freitagmorgen nach Schulz‘ noch gerade so respektablem 81-Prozent-Ergebnis gab die Fraktionschefin ein Radiointerview, in dem sie eine der prominentesten und umstrittensten SPD-Forderungen aufgriff: die Bürgerversicherung. „Wir stehen zum Abbau der Zwei-Klassen-Medizin“, sagt Nahles also. Die Bürgerversicherung gehöre zu den „essentiell wichtigen Punkten“.
Interessant, denn Schulz selbst hatte die Reform der Krankenversicherung in seiner 75-minütigen Parteitagsrede am Donnerstag, also nur einen Tag zuvor, mit keinen einzigen Wörtchen erwähnt. Er redete stattdessen über das privatisierte Luxusgut Wasser, über die Vereinigten Staaten von Amerika, ein Einwanderungsgesetz und eine Bildungsrevolution. Sogar das Schicksal plastikfressender Schildkröten in den Weltmeeren war ihm einige bemerkenswert pathetische Minuten wert.
Warum das alles? Vielleicht weil Schulz Realist genug ist, um zu wissen, dass die Bürgerversicherung SPD-intern überaus beliebt ist, allerdings im Detail sehr schwer umzusetzen. Dass das Konzept also als Verhandlungsmasse und Symbol extrem gut taugt, schon weniger fürs Gesetzblatt.
Wahrscheinlicher noch ist Schulz aber vor allem eine möglichst unvorbelastete Atmosphäre vor den Spitzengesprächen mit Angela Merkel und Horst Seehofer wichtig. Er ist der Parteichef, für den trotz Wiederwahl gilt: Zu stark zum Stürzen, zu schwach zum Führen. Schulz hat einen engen, guten Draht zur Basis, der ihn derzeit schützt (um die Stärkung dieser Bande drehte sich letztlich seine ganze Rede). Umso mehr aber benötigt er nun eine solide, saubere und möglichst erfolgreiche Koalitionsverhandlung mit der Union. Sie würde ihn (vorerst) retten – womöglich in ein Ministeramt. Zu hohe Hürden würden da nur schaden.
Nahles hingegen ist da viel freier. Die Ex-Arbeitsministerin hat sich nach der Bundestagswahl als Fraktionschefin ihr eigenes Machtfundament gesichert, egal was kommt. Sie attackierte denn auch beim Parteitag ganz offen den „Merkelantismus“, versprach mehr Reibung und Attacke, schickte der großen Koalition von 2013 bis 2017 sogar noch den einen oder anderen Giftpfeil hinterher. Sie gehört der politischen Generation nach Schulz an und kann ohnehin abwarten.
Nahles würde in einer großen Koalition schließlich, so sie denn käme, aus dem Parlament heraus jedes Gesetz mitprägen. Käme es wiederum zu einer von der SPD tolerierten Minderheitsregierung, säße sie erst recht am richtigen Platz, weil dann ohne die Macht der Fraktion gar nichts ginge. Und würden die Verhandlungen wider Erwarten ganz platzen und Neuwahlen folgen, fiele keine der nötigen Parteientscheidungen über Vorsitz und Kanzlerkandidatur ohne sie.
Natürlich, auch Nahles betont, man ginge „nicht in Verhandlungen mit einem riesen Rucksack von roten Linien“. Jetzt, in diesen politisch diffusen, überaus spannenden Zeiten, geht es eben um die Kunst der blass-roten Linien. Will meinen: Um Positionen, die Profil geben, aber durchsetzbar sind. Es braucht Freiraum, um Kompromisse schließen zu können, die sich am Ende wie Siege verkaufen lassen.