Und Michail Gorbatschow, der KP-Chef in Moskau, der seit 1985/86 versucht, die ihrem Bankrott entgegen stürzende Sowjetunion zu reformieren? Nun, Helmut Kohl hält „Glasnost“ (Offenheit) und „Perestroika“ (Umbau) für reine Entspannungspropaganda, vergleicht Gorbatschows Fähigkeiten in punkto „Public Relation“ mit denen von Joseph Goebbels – und knüpft erst spät (1988/89) Gespräche an, die vor allem um wirtschaftliche Interessen kreisen. Doch als die Mauer fällt, schaltet Kohl flugs um auf joviale Strickjackendiplomatie. Er ringt dem letzten Sowjet die Einheit, kurz darauf auch die Verankerung Gesamtdeutschlands im Westen ab – und heizt die deutsch-russischen Beziehungen mit seiner „Sauna-Freundschaft“ zu Russlands Boris Jelzin auf. Kein anderer verzahnt persönliche Nähe so geschickt mit Realpolitik. Kein anderer übersetzt kühl kalkulierte Interessen so lückenlos in warme, symbolische Bilder. Als politische Zeitzeichen gehen sie bis heute um die Welt. Helmut Kohl – ein früher Meister der „ikonischen Wende“.
Doch die Unbeirrbarkeit Helmut Kohls und seine geschichtlich aufgeladene Politik haben ihren Preis. Der Weg zur deutschen Einheit und zur Verankerung des neuen deutschen Staates im westlichen Institutionengefüge, der Weg in den Euro und zur Osterweiterung der Europäischen Union ist mit deutschen Milliarden gepflastert. Helmut Kohl kauft seine politischen Erfolge ein, auch das gehört zur Wahrheit, und hinter der Kulisse der politischen Freundschaften geht es oft zu wie auf einem orientalischen Basar. Speziell die europäischen Staatschefs lassen sich die obsessive Machtvergessenheit Kohls, seinen postheroischen Internationalismus und seinen ostentativen Willen zur deutschen Selbstbeschränkung reich vergüten. „Jede für Europa ausgegebene Mark ist gut angelegtes Geld“ – davon ist Helmut Kohl, der Anti-Bismarck, überzeugt – und seine Amtskollegen in Paris und London wissen das auszunutzen. Margaret Thatcher braucht das Projekt Europa nur in Frage zu stellen, schon gewährt Kohl ihr den „Britenrabatt“ (1983). Frankreich braucht nur ein wenig zu stöhnen über teure Agrarreformen – schon ist Kohl bereit, die Deutschen zur Kasse zu bitten (1984). Auf dem Höhepunkt seiner Kanzlerschaft, 1990, finanziert die Bundesrepublik fast 70 Prozent der EU-Nettotransfers.
Angela Merkel: Ich verneige mich vor seinem Angedenken.
Mit der Einheit nimmt Helmut Kohls „Bimbes-Politik“ beinah’ obszöne Züge an. 18 Milliarden Mark lässt er 1990 für die USA und die Frontstaaten springen, um Deutschland eine militärische Beteiligung am ersten Golfkrieg zu ersparen und die Amerikaner bei Laune zu halten während des Vereinigungsprozesses – mehr als Washington erbeten hat. Mehr als 100 Milliarden Mark überweist Kohl bis 1996 in die Sowjetunion, die osteuropäischen Länder und die GUS-Staaten, sei es für den Abzug der russischen Streitkräfte, sei es in Form von Wirtschaftshilfen, Kreditgarantien, Hermes-Bürgschaften, Investitionszuschüssen. Noch mehr Geld fließt als direkte Aufbauhilfe in die neuen Bundesländer; hinzu kommen die Kosten für die Währungsumstellung, Sozialtransfers, die Beseitigung von Altlasten.
Kohl ist damals wie im Rausch. Plötzlich ist es, als fügten sich alle Mosaiksteine seiner Außenpolitik zu einem politischen Meisterwerk, als sei all’ sein Wirken zwangsläufig auf diesen welthistorischen Moment hinaus gelaufen: auf das denkbar beste Ende eines fürchterlich gewaltsamen 20. Jahrhunderts. Kohl spürt den „Rockzipfel der Geschichte“, fühlt sich wie ein Werkzeug von Hegels Weltgeist, der alles zum Besten ordnet. Er will „blühende Landschaften“ herbei zaubern, Deutschland mit Polen, Tschechien, Ungarn und Europa mit sich selbst versöhnen – und er wischt mit der Nonchalance eines Traumwandlers die Bedenken derer beiseite, die er im göttlichen Moment glückender Geschichte nur für Knauser und Knicker, für politische Kleinkrämer und ökonomische Erbsenzähler halten kann. Geld? Was für eine Profanität: „Zur Not drucken wir halt ein bisschen mehr.“