WirtschaftsWoche: Ministerin Eisenmann, in einer deutschlandweiten Vergleichsstudie sind die Schüler in Baden-Württemberg dramatisch abgerutscht. Der Mittelstand ist entsetzt. Was ist schief gelaufen im einstigen Musterland?
Susanne Eisenmann: Es gibt nicht die eine Ursache, auch nicht den einen Schuldigen. Da müssen wir schon mehr als nur ein paar Jahre zurückschauen, und zwar mit klarem analytischem Blick. Sicherlich sind Bildungsreformen im Jahrestakt ganz grundsätzlich ein Problem. Wir haben im Ergebnis jetzt ein Qualitätsproblem an unseren Schulen. Das ist bitter, aber die Realität.
Zur Person
Susanne Eisenmann ist baden-württembergische Ministerin für Kultus, Jugend und Sport. Zuvor war sie elf Jahre Bürgermeisterin für Bildung, Kultur und Sport der Landeshauptstadt Stuttgart. Von 1991 bis 2005 war sie Büroleiterin des früheren Ministerpräsidenten Günther H. Oettinger.
Was genau hat zu dem Leistungsabfall geführt?
Gemeinsam mit Wissenschaftlern, Verbänden, Lehrern und Experten arbeiten wir derzeit daran, welche Ursachen das hat und wie wir die Defizite beheben können. Vor allem in den Kernfächern muss die Qualität schnell deutlich besser werden.
Die Wirtschaft klagt, manche Azubis könnten nicht richtig lesen und schreiben. Beim Spezialwerkzeughersteller Mapal in Ostwürttemberg bekommen Azubis Nachhilfe im Betrieb.
Das darf keine Lösung auf Dauer sein. Die Schulen müssen in der Lage sein, die Schüler mit den notwendigen Kompetenzen auszustatten, damit sie am Arbeitsmarkt bestehen können. Es kann nicht sein, dass Unternehmen unter dem Qualitätsproblem von Schulen leiden.
Für die Unternehmen ist das eine Wachstumsbremse.
Baden-Württemberg hat keine Rohstoffe. Und wer nichts im Boden hat, muss es in der Birne haben. Investitionen in qualitätsvolle Bildung sind dringend notwendig. Wir haben im ersten Jahr der grün-schwarzen Regierung ja auch schon einiges entschieden: die Stärkung der Realschule beispielsweise und mehr Stunden in Deutsch und Mathematik für die Grundschulen.
Ganz grundsätzlich: Wie muss sich Schule verändern, damit der Übergang zwischen Schule und Ausbildung besser gelingt?
Wir müssen den Wert der beruflichen Bildung wieder stärker betonen. Wir müssen schon in der Schule klar machen, dass auch eine Ausbildung im dualen System zu einer anspruchsvollen und lukrativen Karriere führen kann. Das ist ein gesamtgesellschaftliches Thema, das ich als Präsidentin der Kultusministerkonferenz gemeinsam mit Arbeitgebern und Gewerkschaften als Schwerpunktthema „berufliche Bildung: Übergänge, Abschlüsse, Anschlüsse“ angehe.
Vor zehn Jahren riefen Unternehmen und Politik nach mehr Abiturienten. Heute vermissen alle die Facharbeiter. War die damalige Politik falsch?
Jeder, der das Abitur machen möchte und machen kann, soll dieses auch durchziehen. Aber bei weitem nicht für jeden ist das der richtige Weg. Damals haben wir alle – Politik und Wirtschaft – zu stark den Wert der Abiturientenquote betont. Das war ein Fehler. Wir brauchen auch gute Haupt- und Realschüler. Und die Unternehmen müssen ihnen ihrerseits eine Perspektive für eine Ausbildung bieten.
"Technik folgt Pädagogik"
Die Digitalisierung wird künftig Jobs schaffen, von denen wir heute noch nichts wissen. Wie muss sich Schule verändern, damit die Jugendlichen fit für die Jobs der Zukunft sind?
Die Grundfertigkeiten – lesen, schreiben und rechnen brauchen wir auch in der Ära der Digitalisierung. Trotzdem haben wir in Deutschland Nachholbedarf. Wir können und müssen mobile Endgeräte stärker im Unterricht einsetzen. Dabei gilt ganz klar: Technik folgt Pädagogik. In Baden-Württemberg haben wir 15 „Lernfabriken 4.0“ aufgebaut. Das sind Labore, in denen Berufsschüler den Umgang mit industriellen Automatisierungslösungen lernen können – mit den Geräten, die heute auf dem Markt sind. Vor allem in den Berufsschulen müssen wir uns noch viel stärker am Bedarf der Unternehmen orientieren.
Lassen Sie uns über G8 und G9 sprechen. Niedersachsen kehrt zum alten System zurück, Bayern ebenfalls. Sie wollen bei G8 bleiben, lassen aber Ausnahmen zu – ein ganz schönes Durcheinander.
Die Länder haben die Bildungshoheit und entscheiden selbständig, auf welchem Weg sie das Abitur anbieten. In Baden-Württemberg haben wir 44 Modellstandorte, an denen das Abitur nach neun Jahren möglich ist. An den rund 330 anderen Gymnasien bleiben wir bei G8. Hinzu kommt, dass 37 Prozent der Abiturienten ihr Abitur bei uns ohnehin über ein berufliches Gymnasium erlangen. Die sind und bleiben beim Abitur nach neun Jahren. Wir brauchen jetzt nicht eine weitere Reform, sondern vor allem Ruhe und Verlässlichkeit im Schulsystem.
PISA, TIMSS, IQB, IGLU, VERA - Schulvergleichstests im Überblick
Diese vier Buchstaben stehen für den weltweit größten Schulvergleichstest, das „Programme for International Student Assessment“. Es wird alle drei Jahre von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Paris organisiert. Sie tut dies im Auftrag der Regierungen - oder in Deutschland für die Kultusministerkonferenz (KMK) der 16 Länder. Getestet werden 15-Jährige in Naturwissenschaften, Mathematik sowie Lesen und Textverständnis. An „PISA 2015“, dessen Ergebnisse am 6. Dezember präsentiert werden, nahmen weltweit mehr als eine halbe Million Mädchen und Jungen aus über 70 Ländern und Regionen teil, darunter etwa 10.000 aus Deutschland.
Abkürzung für die ebenfalls internationale Schulstudie „Trends in International Mathematics and Science Study“, hier geht es um mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen. Bei der jüngsten Erhebung im Jahr 2015 ließen sich unter Federführung von Bildungsforschern der Technischen Universität Dortmund bundesweit 4000 Viertklässler an 200 Grund- und Förderschulen testen. Weltweit waren es in rund 50 Staaten und Regionen gut 300.000 Kinder, zudem wurden 250.000 Eltern, 20.000 Lehrer und 10.000 Schulleiter befragt.
Diese Studie des Berliner Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) wurde zuletzt Ende Oktober vorgestellt. Sie liefert im KMK-Auftrag Daten und Fakten zum Stand der Schulpolitik in den Ländern. Der „Bildungstrend“, früher „IQB-Ländervergleich“, ersetzte vor einigen Jahren die regionalen PISA-Erweiterungsstudien (PISA-E). 2015 nahmen an den Tests in Deutsch und Fremdsprachen gut 37.000 Schüler der neunten Jahrgangsstufe aus über 1700 Schulen in ganz Deutschland teil.
Dabei handelt es sich in Deutschland um die „Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung“, international lautet die Abkürzung PIRLS („Progress in International Reading Literacy Study“). Mit diesem Projekt wird in fünfjährigem Rhythmus das Leseverständnis am Ende der vierten Jahrgangsstufe erfasst. Für IGLU ist wie bei TIMSS das Institut für Schulentwicklungsforschung (IfS) der TU Dortmund unter Leitung von Wilfried Bos zuständig. Ergebnisse von PIRLS/IGLU wurden zuletzt im Dezember 2012 veröffentlicht, der nächste Bericht kommt 2017 heraus.
Diese länderspezifischen wie auch länderübergreifenden Tests mit Vergleichsarbeiten (kurz VERA) sind Teil eines Bündels von Maßnahmen, mit denen Qualitätsentwicklung und -sicherung auf Ebene der einzelnen Schule gewährleistet werden soll. „Unter den Lernstandserhebungen nehmen die bundesweit einheitlichen Vergleichsarbeiten für die Jahrgangsstufe 3 und 8 (VERA 3 und VERA 8) eine besondere Stellung ein“, schreibt die KMK.
Studien zeigen, dass die Qualität durch G8 nicht leidet. Auch das Stressniveau ist unverändert. Ärgert es Sie, dass viele ihrer Kollegin hektisch und ohne Not zum alten System zurückkehren?
Jedes Land muss entscheiden, ob ein permanenter Wechsel sinnvoll ist. Das ist ja auch die Chance des Föderalismus, dass verschiedene Wege möglich sind. In Baden-Württemberg halten wir eine flächendeckende Rückkehr zum G9 nicht für sinnvoll.
Die Verkürzung des Gymnasiums hat fast überall in Deutschland die Ganztagsschule etabliert. Warum haben sich CDU und CSU damit so schwergetan?
Die Nachfrage unterscheidet sich zwischen Stadt und Land. Viele Eltern sind auf dieses Angebot angewiesen. Dabei kommt es mir entscheidend darauf an, dass wir keine staatliche Ganztags-Zwangsbeglückung installieren, sondern Flexibilität zulassen. Ich schaue bei dieser Thematik insgesamt lieber nach vorne. Wir sind daher in sehr intensivem Dialog mit den einschlägigen Partnern.