Tauchsieder

Multikulti - diesmal besser?

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Drei Thesen und ein Fazit

1. Der liberale Rechtsstaat zeichnet sich durch seine Neutralität aus.

Er interessiert sich nicht für den Glauben, die Gesinnung, die Hautfarbe, das Geschlecht und die sexuellen Vorlieben seiner Bürger und ist blind für die Präferenzen von Parteien, Gruppen und Gemeinschaften. Allerdings: Ohne ein (rechtlich nicht erzwingbares) Maß an Loyalität kann dieser weltanschauungsfreie Rechtsstaat nicht bestehen. Er ist, mit dem amerikanischen Philosophen Ronald Dworkin gesprochen, abhängig vom „prozeduralen Engagement“ seiner Bürger, einander mit Respekt zu begegnen – und von der moralischen Neutralität, die er gegenüber allen Denkweisen und Glaubensüberzeugungen einnimmt. Daraus folgt: Wer am Erhalt des liberalen Rechtsstaates interessiert ist, muss auf Assimilation im Sinne einer „politischen Sozialisation“ (Jürgen Habermas) bestehen. Das Grundgesetz ist die exakte Grenze der persönlichen Freiheit und der religiösen Gebote, die es duldet und schützt. Anders gesagt: Blutfehden und Zwangsehen haben keinen Platz in Deutschland, das Gebet des Muezzins hingegen ist ebenso erlaubt wie das Glockenläuten des Küsters: Eine Bereitschaft zur Akkulturation, also zur Einübung in die Lebenspraktiken der einheimischen Kultur, kann Einwanderern nicht abverlangt werden, ohne das Prinzip der Neutralität im liberalen Rechtsstaat außer Kraft zu setzen.

2. Die Schwäche des liberalen Rechtsstaates ist sein Relativismus.

Aus diesen Ländern kommen Asylbewerber in Deutschland

Er fordert die Duldung von Menschen, die andere Wertvorstellungen haben, mitnichten aber Verständnis, geschweige denn Interesse. Seine im Wortsinn a-moralische Neutralität verpflichtet Bürger auf das Prinzip der Nicht-Einmischung, das ist alles. Auf der Strecke droht dabei unsere Sensibilität für das Besondere, je Eigene, Authentische des Fremden und Anderen zu bleiben, kurz: unsere Weltoffenheit – und damit auch der öffentliche Raum, in dem sich Menschen auf geteilte Werte und gemeinsame Vorstellungen eines „guten Lebens“ verständigen. Zugespitzt formuliert: Die "Differenzblindheit" des liberalen Rechtsstaates (Charles Taylor) bringt die Indifferenz von Wertvorstellungen hervor. Daher die Unsicherheit, mit der wir sichtbaren Bekenntniszeichen (Kreuz, Kopftuch) begegnen: Man will vor allem nicht von ihnen behelligt werden.

Echte Toleranz aber erwächst nicht aus Gleichgültigkeit, Unsichtbarkeit und Laissez-Faire, sondern aus Abstand und Kontrast, aus der Bewunderung für die Originalität des radikal Anderen und aus dem streitenden Austausch von Überzeugungen. Diese Fähigkeit zur selbstgewissen, anerkennenden Begegnung (sic!), eine Aufgabe der Zuwanderer wie der Einheimischen, ist in Deutschland nicht sonderlich ausgeprägt. Viele Kinder und Jugendliche von Zuwanderern dürften - frei nach Frantz Fanon - das abwertende Bild der Unterlegenheit, das Union und BILD in den 1990er Jahren von ihnen entworfen haben, verinnerlicht und sich selbst aufgeprägt haben - und daher recht unempfindlich sein für Zeichen der Anerkennung. Andererseits ist die verbreitete Furcht vor der Islam unter nicht-muslimischen Deutschen auch ein Reflex auf die  eigene Orientierungsarmut, Standortdiffusion und Kulturvergessenheit.

3. Deutschland ist heute weltoffener als noch vor zwei Jahrzehnten.

Das Land habe sich „an die Einwanderung gewöhnt“, kulturelle Vielfalt sei „selbstverständlich“ geworden, sagt der deutsch-iranische Schriftsteller Navid Kermani. Er selbst werde immer seltener gefragt, wann er denn zurückgehen werde in seine Heimat, in „meinem Fall Siegen in Südwestfalen“. Diese „gewaltige Integrationsleistung“ verdankt sich einer wechselseitigen Anpassung, die erst gelingt, seit Deutschland angefangen hat, ein dezentes leitkulturelles Selbstbewusstsein an den Tag zu legen. Die Probleme der multikulturellen Gesellschaft, zum Beispiel in den Kindergärten und Schulen, wo mehr als die Hälfte der Schüler türkisch spricht, dürfen gleichwohl nicht ausgeblendet werden. Kermani versteht es durchaus, wenn eine Schule beschließt, dass auf dem Pausenhof nur noch deutsch gesprochen werden darf. Die Antwort auf den hohen Migrantenanteil könne nicht sein, dass man die eigene Kultur schamhaft in den Hintergrund rückt; im Gegenteil, die deutsche Kultur sollte „gepflegt und selbstbewusst vertreten werden“.

Fazit: Nur wer sich selbst etwas gilt, kann gelten lassen. Die nächsten Wochen, Monate, Jahre werden daher zur Nagelprobe für die neue „Willkommenskultur" der Deutschen. Entweder wir wissen um den Wert unserer liberalen Grundordnung und unseres kulturellen Selbstverständnisses, tolerieren also Kreuz und Kopftuch – oder der Sarrazinismus wird gewinnen.

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