Noch höher anzurechnen ist ihm, dass er messerscharf wie niemand zuvor erkannt hat: Der Kapitalismus ist eine evolutionäres System, dessen Macht im digitalen Zeitalter nicht mehr an Methoden der körperlichen Unterwerfung und Disziplinierung gebunden ist, sondern der freiwilligen Selbstkontrolle fröhlicher Google-Sucher, Facebook-Nutzer und Kindle-Leser unterliegt: "Das neoliberale Regime verwandelt die Fremdausbeutung in Selbstausbeutung." Die kapitalistische Moderne laufe nicht auf die horrende Negativität der totalen Überwachung und Strafe wie bei George Orwell hinaus, sondern auf die horrende Positivität der totalen Transparenz und Selbstinzuchtnahme.
Für Han ist das natürlich eine sehr einseitige, lineare Angelegenheit, eine Eskalationsgeschichte des kapitalistischen Horrors: Ein unternehmerisches Ich, das sich nicht mehr zur Klasse solidarisieren kann und mit verinnerlichtem Leistungsdruck dem nächsten Burnout entgegen taumelt, das sich lustvoll zum Sklaven der Marktlogik und des Google-Algorithmus macht, das sich seine mediokre Angestellten-Karriere erbuckelt, um sich dem Verblendungszusammenhang einer durchnormierten Produkt-, Informations- und Unterhaltungsindustrie auszuliefern - so ein unternehmerisches Ich ist natürlich, vom Schreibtisch des Philosophen oder Medientheoretikers oder Kulturwissenschaftlers aus betrachtet, ein viel größeres, weil viel subtileres, psychisch ausgebeutetes Opfer des "neoliberalen Regimes" als alle bloß roh und körperlich ausgebeuteten Arbeiter, Frauen und Kinder in den Bergwerken und Gesenkschmieden des 19. Jahrhunderts.
Eingelullte Sinne
Soweit in etwa der klapperdürre Befund von Han, den er unter Ausschluss von Argumenten Seite um Seite in immer neue Metaphern einkleidet, darunter einige brillant und zündend, andere rettungslos schräg und windschief - eine nachlässig verfugte Collage von Suggestionen und Oberflächenbeobachtungen; pseudophilosophische Lounge-Musik, die die Sinne nicht schärft, sondern einlullt, die in ihren endlosen Schleifen nichts aufs Hinhören zielt, sondern aufs Abschalten.
Dialektik der Aufklärung? Am Ende des Buches steht der Leser der Eindimensionalität von Han so willenlos und müde gegenüber, dass er gegen seine algorithmische Zurichtung von Amazon und Google nichts mehr einzuwenden hat - und sich damit ganz auf der Höhe des Autors befindet. Hat sich Han als erklärter Gegner eines "neoliberalen Regimes", das sich indirekt des "freien" Individuums bemächtigt, indem es dafür sorgt, dass das Individuum den "Herrschaftszusammenhang" in sich selbst abbildet und als Freiheit der (Konsumenten)Wahl interpretiert, sich nicht zugleich als dessen erstes Opfer inszeniert? War es der Kapitalismus, der ihm, Han, alle Ambivalenz abtrainiert hat, war es Han selbst - oder kann er es, als neoliberal fremdgesteuertes Ich-Derivat, überhaupt noch gewesen sein?
Für Han, folgt er seinen eigenen Behauptungen, steht die Antwort längst fest. Für alle anderen, die dazu noch Fragen und den Weg in die individuelle Selbstversklavung noch nicht ganz so überzeugt angetreten haben, ein Zitat von Michael Foucault aus Hans Buch und sein einsamer Höhepunkt: "I think that if one wants to analyze the genealogy of the subject in Western civilization, he has to take into account not only techniques of domination but also techniques of the self. Let's say: he has to take into account the interaction between those two types of techniques."